"Stimmen" von Wolfgang Herrndorf ist überraschend lesenswert
Wolfgang Herrndorfs "Stimmen" |
Bald ist es soweit, dass Wolfgang Herrndorf, tragisch verstorben 2013, posthum mehr Bücher veröffentlicht hat, als zu Lebzeiten. Als ich hörte, dass ein neues Buch namens "Stimmen" publiziert werden würde, freute ich mich nur so semi darauf. Hatte Herrndorf selbst nicht alles lesenswerte zerstört oder löschen lassen? Beginnt nun auch bei Wolfgang Herrndorf die posthume Verwurstungs-Maschinerie sämtlicher irgendwo im Netz auffindbaren Textfragmente?
Marcus Gärtner und Cornelius Reiber, die Herausgeber, sind glücklicherweise langjährige Weggefährten Herrndorfs, die den "Tschick"-Autor wie wenige kannten und auch großes Interesse daran haben, dessen Erbe in seinem Sinne zu verwalten.
Sie haben es geschafft: "Stimmen" ist - ähnlich wie "Bilder deiner großen Liebe" ein bewegendes, dicht geschriebenes Stück Literatur ohne das unsere Bücherschränke ein Stück ärmer wären.
Um was es eigentlich geht? Herrndorf-Kenner wissen, dass er selbst in seinem Blog "Arbeit und Struktur" angedeutet hat, dass er an einem "Stimmen"-Roman gearbeitet hatte. Der Roman ist vermutlich vernichtet. Die "Stimmen"-Texte jedoch nicht.
Stimmen - so hieß Herrndorf im Internet-Forum der "Höflichen Paparazzi", in dem sich Anfang der 2000er das Who is Who der jungen Literaturszene tummelte.
Wer nun, wie ich, befürchtete, dass das Buch aus gut geschriebenen, aber heute nicht mehr relevanten Anekdoten von Begegnungen mit Prominenten bestünde, der wird positiv überrascht: Gärtner und Reiber haben Prosa ausgewählt, im typischen-Herrndorf-Sound erzählt, extrem dicht, immer wieder ergreifend und voller liebenswerten Humor. Erzählungen die sich perfekt in die bereits bekannte Herrndorf-Welt fügen. Texte, die auf der schmalen Linie zwischen Autobiographie und Fiktion tänzeln.
Da wird das Auto, ein Wartburg, von Joachim Lottmann geklaut oder über die ersten großen Lieben reflektiert.
Die Herrndorf Kritiker, die sich bis heute wundern, warum "Tschick" so gehyped wurde, dürften spätestens mit dieser Veröffentlichung anerkennen, dass Herrndorf ein Autor war, der - so unterschiedlich seine Bücher auch geschrieben waren - einen einzigartigen, unverkennbaren Ton entwickelt hatte. Viele der Texte sind - vermutlich auch aufgrund ihrer Veröffentlichung im Internet - so dicht geschrieben, dass mit wenigen Sätzen und großen Lücken zwischen den Zeilen - ganze Lebensentwürfe beschrieben werden. Das ist große Kunst. Dass die Texte gleichzeitig berührend und unterhaltsam sind, sowieso.
Am spannendsten dürfte für Fans wie mich allerdings das Nachwort von Cornelius Reiber und Marcus Gärtner sein: Darin gestehen sie ein wenig kleinlaut, dass sie also doch den Rechner Herrndorfs nach Juwelen durchforstet haben. Sie argumentieren, dass Wolfgang Herrndorf klar vorgegeben hätte, welche Texte zu löschen seien. Im Umkehrschluss, so argumentieren sie zu unserer großen Erleichterung, könne man alle Texte veröffentlichen, die er nicht explizit zur Löschung freigegeben hat. Und das ist gut so.
"Stimmen" ist weder Leichenfledderei noch kommerzielle Ausschlachtung. Es ist ein weiteres fehlendes Puzzlestück im Gesamtwerk von Wolfgang Herrndorf und ich bin sehr dankbar, dass ich auch diesen Herbst noch einmal mit Texten von ihm verbringen darf!
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