Freitag, 28. Januar 2022

Papst, Ludwig Thoma & Co. - Traunstein hat ein Erinnerungs-Problem

Soll Papst Benedikt XVI der Ehrenbürger Titel Traunsteins genommen werden?

Traunstein hat sich mit manchen berühmten Bürgern seiner Stadt, wie Thomas Bernhard, noch nie leicht getan. Lange Zeit erinnerte wenig daran, dass Thomas Bernhard als Kind in Traunstein gelebt hatte. Inzwischen ist immerhin eine Stiege nach dem weltberühmten Schriftsteller benannt. Sein Wohnhaus hat man trotzdem abgerissen. Das kommt davon, wenn man die Stadt in seinen Büchern beschimpfen lässt. Stolz konnten die Traunsteiner wenigstens auf ihre großen bayerischen Koryphäen Ludwig Thoma und Papst Benedikt XVI sein. Nach dem einen ist eine Straße und die Grundschule benannt. Der andere ist Ehrenbürger der Stadt und wurde jahrelang von Ehrendelegationen von Stadt, Pilgern und Gebirgsschützen besucht. Einige Jahrzehnte nach Entdeckung der antisemitischen Hetzschriften Ludwig Thomas wird inzwischen auch in Traunstein diskutiert, ob man seine Kinder weiter in eine nach ihm benannte Schule schicken will. Beim Papst ging es wesentlich schneller. Keine Woche ist seit der Veröffentlichung des neuesten Gutachten zum München/Freisinger Mißbrauchsskandal vergangen, schon war der Entzog der Ehrenbürgerwürde Thema im Stadtrat. Diese ganzen Diskussionen erzählen allerdings mehr über unsere heutige Gesellschaft als über die Frage, wie hoch Werk, Wirken und Persönlichkeit der einst hochgeschätzten Menschen rückblickend zu werten ist. 
Das Geschrei und die Empörung über Joseph Ratzinger alias Papst emeritus Benedikt XVI ist laut und schrill. Das soziale Netzwerk tobt, die Medien sowieso. Die Frage ist und bleibt: Warum erst jetzt?
Ich empfehle allen, sich den Hollywoodstreifen "Die zwei Päpste" aus dem Jahr 2019 zur Gemüte zu führen. In diesem Film, basierend auf einem Sachbuch, beschreibt eine der eindrucksvollsten Szenen das ganze Dilemma von Benedikt: In einer intimen Situation nehmen sich der amtierende und der zukünftige Papst gegenseitig die Beichte ab. Joseph Ratzinger beichtet zunächst, dass er schon als Kind nie wirklich gelebt hat und sich immer der geistlichen Welt hingegeben hat. Dann beichtet er seine größte Sünde. Man hört nicht, was Benedikt flüstert. Aber an der Reaktion von Franziskus ist klar erkennbar, dass es um den Missbrauchsskandal geht und, dass Benedikt bereut, das Leid der Opfer dem Wohl der Kirche untergeordnet zu haben.
Natürlich, es ist nur ein Film. Ein Film, der mehr als drei Jahre vor dem aktuellen Skandal gedreht wurde. Das Drama des Papst Benedict wurde längst zusammengefasst: Er war schon immer ein weltfremder Mensch, der die Kirche über alles gestellt hat. Und damals einen (oder mehrere) Priester schützte. Wenn es Hollywood längst wusste, warum tun wir hier alle so überrascht?
Natürlich wünschte man sich, dass der heute 94 Jährige sich in einer ähnlich berührenden Geste wie im Film öffentlich bei den Missbrauchsopfern entschuldigen würde. Er könnte als großer Mensch in die Geschichtsbücher eingehen. Zurückgetreten ist er ja schon. 
Zerstört er jetzt sein Lebenswerk? Kommt darauf an, wie man Lebenswerk definiert. Schon nach der Papstwahl war in großen Teilen der Gesellschaft das Entsetzen groß, dass dieser Vorsitzende der Nachfolgeorganisation der Inquisition nun auch noch Papst geworden ist. Joseph Ratzinger war damals schon ebenso streitbar. Sollte man ihm nun die Titel aberkennen, weil er als 94-jähriger Greis nicht mehr die Kraft, oder vernünftige Berater hat, ein Schuldeingeständnis auszusprechen? Hier sind wir wieder bei Ludwig Thoma. Dieser war über Jahrzehnte ein hochangesehener bayerischer Schriftsteller. Seine Werke wirken bis heute nach. Dass er in seinen letzten Jahren - vermutlich aus einer persönlichen Enttäuschung heraus - zu einem glühenden Antisemiten wurde, ist natürlich unverzeihlich. Es darf nicht verschwiegen werden und wird für alle Zeit untrennbar mit dem Namen Ludwig Thoma verbunden sein. Aber deshalb sein Gesamtwerk herabzuwürdigen, oder sogar zu verbannen - kann das die richtige Lösung sein? In anderen Ländern versucht man, das Dilemma mit Aufklärung zu lösen: Die Statuen und Ehrentitel von einst verdienten Personen bleiben erhalten. Es wird aber auf Plaketten und Hinweisen auch auf die Verfehlungen der Persönlichkeiten hingewiesen. Und da wären wir wieder bei Thomas Bernhard. Die Plakette an seinem Wohnhaus ist verschwunden. Das Wohnhaus abgerissen. Von den berühmtesten Traunsteiner Bürgern ist ausgerechnet er übrig geblieben über dessen nach ihm benannten Stiege derzeit in Traunstein nicht diskutiert wird. Die Gesellschaft ist schon eine schnellebige Angelegenheit. Ich bin gespannt, wann die Traunsteiner Kinder in die Thomas-Bernhard Schule gehen und die Briefe ans Landratsamt an den Thomas-Bernhard-Platz adressiert werden.

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