Sonntag, 19. Oktober 2014

Borges im Kaufland - oder: Was Hanno Buddenbrook und ich gemeinsam hatten

Ab und an sehe ich ihn noch im Kaufland, wenn er die Rolltreppe runter fährt. Herrn Borges, einer der Lehrer, die mein Leben verändert haben. Es war ein weiter Weg vom Rottmayr Gymnasium 1996 bis ins Kaufland heute. Für uns beide, denke ich. Ich muss, immer wenn ich ihn im Kaufland auf der Rolltreppe sehe, an seinen Namensvetter Jorge Luis denken. Der hat ein Gedicht geschrieben, das ungefähr so geht: Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich…  Nicht mehr so perfekt sein wollen, mehr entspannt sein, mehr barfuß laufen und mehr Sonnenuntergänge anschauen usw. Der Witz von dem Gedicht ist natürlich, dass der Mann schon 85 ist und das alles zu spät begreift. Ja, daran denke ich, wenn ich Herrn Borges im Kaufland sehe. Einmal war ich tatsächlich barfuß, Herr Borges wirkte sehr unentspannt. Außerdem heißt es in dem Gedicht, man solle mehr Fehler machen. Wenn ich dem Herrn Borges meine Matheschulaufgabe von der elften Klasse damals unter die Nase gehalten hätte, hätte der gesagt: „Mehr Fehler kann man aber nicht mehr machen“, und damals haben wir beide noch nicht gewusst, dass die Mathe Sechs im Jahreszeugnis das beste war, was mir jemals passiert ist. Denn es war das letzte Jahreszeugnis, das noch den Stempel vom Rottmayrgymnasium drauf hatte und es war auch das letzte Mal, dass ich Angst vor der Schule hatte und auch das letzte Mal, dass ich keinen Spaß am Lernen hatte, aber das wusste ich damals natürlich noch nicht, dass es anders auch ging. Ich war ja fast mein halbes Leben lang auf dieses Gymnasium in Laufen gegangen. Und es lag auch nicht am Herrn Borges, wir hatten wohl mehr gemein, als ich mir eingestehen wollte. Immerhin haben wir beide inzwischen ein Buch veröffentlicht. Seines soll sogar richtig gut sein.
Nein, an der Mathesechs lag es nicht. Vielleicht an der Lateinfünf?
Von der fünften bis zur sechsten und dann wieder in der elften hatten wir einen humanistischen Lehrer, der viel von der sittlichen Reinheit redete und der es sich zu eigen gemacht hatte, seine Liebe für tote Sprachen seinen Schützlingen anhand enormen Psychodruck näherzubringen. Noch heute ist ein typischer Satz, wenn wir Klassenkameraden uns begegnen: „Hast du auch immer noch Alpträume vom Schorsch?“
Im letzten Kapitel der Buddenbrooks beschreibt Thomas Mann aus der Sicht von Hanno Buddenbrook diese Angst, die uns Lateinschüler so lange verband, recht treffend. Als ich es las, dachte ich lange darüber nach, ob es jetzt gut oder schlecht ist, dass es am Rottmayr Gymnasium 1996 noch Lehrer gab, die einen humanistischen Enthusiasmus aus dem Jahr 1896 an den Tag legten.
Ach ja, Borges Gedicht sagt auch nach: Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich weniger Dinge ernst nehmen. Wie seltsam, dass man so viele Jahre danach noch darüber nachdenkt, wie man seine Schulzeit verbracht hat. „Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten“, heißt es noch reumütig bei Borges, oder bei dem der dieses Gedicht geschrieben hat. Wie alt ist der Schorsch eigentlich heute?

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