Home is where the Lesung is |
Wenn Traunsteins zweitbester Autor zur Lesung lädt, steht das Who is Who der Literaturszene stets Schlange, um Teil des großartigen Events zu sein. Auch diesmal waren die Superstars aus Literatur und Kunst wie Ronja von Rönne und Elena Muti - Muse Thomas Glavinic' zugegen. Allerdings nicht in persona, sondern nur virtuell in Werk und Bild. Auch die dritt- und viertbesten Autoren des Chiemgau konnten nicht, weil sie im Urlaub waren oder aus Neid auf das Talent des zweitbesten Schriftstellers der Stadt dessen Lesungen grundsätzlich boykottieren. Erkannt wurde im Publikum unter anderem ein heimischer Tumblr-Influencer, die literaturinteressierte 4-monatige Nichte des Schriftstellers und eine Handarbeitskünstlerin die kein Yoga betreibt.
Gehasst, verdammt, vergöttert: Der zweitbeste Schriftsteller Traunsteins |
Ein milder Sommerabend in Ingemar Maiers Kleidungsladen.de, dem hipsten Laden der Stadt: Draußen wurde in der Abendsonne Pizza vom Cantuccio gegessen, drinnen übertrug Radio Festung live den Sound von DJ Martino di Leo. Und es gab Gesprächsstoff unter den Szenekennern: Wer ist die Schöne, die auf dem Kleidungsladen-Werbebanner groß behauptet "Home is where the lake is"? Handelt es sich etwa um die Künstlerin Elena Muti - bekannt geworden als die Muse von Thomas Glavinic - zweitbester Schriftsteller im deutschsprachigen Raum? Trotz frappierender Ähnlichkeit blieben Restzweifel - warum sollte eine international bekannte Künstlerin Werbung für den Chiemsee machen?
Über ähnliche Fragen handelte schließlich der erste Text, den der Autor dem Publikum vortrug: "Wie ich dem Chiemgau Ronja von Rönne näherbringen wollte und fast wahnsinnig wurde". Denn auch der in Berlin lebenden Feuilleton-Star (dem fälschlicherweise ebenfalls Nähe zu Glavinic kolportiert wurde) gibt sich ab und an Mühe, urbane Kultur in den Chiemgau zu transportieren. Über das Scheitern derartiger Ansinnen handelte dieser erste Text.
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Was der Autor ebenfalls von der zweitbesten Jungautorin Deutschlands abschaute war, Lesungen unterhaltsam zu gestalten. Mit diesem mutigen Schritt bemüht er sich um eine Emanzipation seiner Chiemgauer Autorenkollegen. Also lud er die Jazzband wieder aus, strich den Lyrik-Part und las einfach nur lustige Blog-Artikel vor. Auch der zweistündige Vortrag "Wie Literatur entsteht" landete zerknüllt in der Tonne neben dem Elena-Muti-Banner.
Gelacht wurde tatsächlich viel im Publikum. Vor allem über das Aussehen des Autors. Der sah sich gezwungen die Anekdote zum besten zu geben, warum der vormittags noch hipsterbärtige Schriftsteller nun mit einem glatten Babypopo im Gesicht auf der Bühne stand: Er hatte versehentlich den Aufsatz des Barttrimmers abgenommen und sich eine Schneise in den danach nicht mehr ganz so imposanten Holzfällerbart geschnitten. Nach Rettungsversuchen seiner Frau sah er kurz darauf aus wie Lemmy, wenig später hatte er einen Provinzpolizist-Schnauzer, wenig später sah er aus wie Charly Chaplin, er entschloss sich aber aus ästhetischen Gründen auch diesen Rest-Bart wegzurasieren und nass rasiert unter die Menschen zu treten.
Statt aus seinen Romanen las er diesmal überwiegend aus seinen Blogs vor: Während die im Publikum sitzenden Eltern von Kleinkindern über die Anekdoten aus dem "Elterntagebuch" herzlich lachten, weil sie die beschriebene Zeit des Zahnens längst hinter sich hatten, runzelten die schwangeren Damen die Stirn ob der Dinge die ihnen noch bevorstehen. Aber der Autor konnte sie auch rasch beruhigen: "Eine Geburt tut gar nicht sooo weh."
Während es im Kleidungsladen recht lustig zuging, reagierte man am anderen Ende der Stadt im Café Festung, wohin die Lesung live übertragen wurde, konsequent: Dort verfolgte man DJ Martiono di Leos Musik mit Genuss, die Lesung wiederum weckte unter den Szenegängern ambivalente Gefühle. Udo Henning später zum Autor, der eine Stunde lang hoffte, durch die live übertragene Lesung nicht länger nur der zweitberühmteste Autor der Stadt zu sein: "Das Gelaber habe ich dann sofort ausgemacht".
Der Autor nahm es gelassen. Das Vermarktungsgenie verschenkte noch ebenso viele Bücher wie er verkaufte und stieß nach der Lesung erschöpft aber glücklich mit der zweidimensionalen Elena Muti an in der Hoffnung, eines Tages so tolle Lesungen zu machen wie ihr Ex-Freund Thomas Glavinic.
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