Erst verschwinden die Toten, dann verschwinden die Lebenden, die vom Tod nichts wissen wollen
Ein
unschöner Nebeneffekt des Tod ist im Leben noch junger Menschen, zu denen ich
mich
zähle, dass nicht nur die Menschen die gestorben sind verschwinden,
sondern nach und nach auch die Freunde, die keine Erfahrung mit dem Thema Tod
und Sterben haben, da sie nur schwer damit umgehen können.
Alle Jahre wieder: Allerheiligen |
Bis
zu meinem dreißigsten Geburtstag sind in kurzer Folge nach meiner Großmutter mehrere Onkel und Tanten und meine Mutter gestorben. Innerhalb von fünf Jahren folgten noch ein weiterer
Onkel und mein Vater.
Was
das aus einem Berufsjugendlichen macht, der so euphorisch das Leben in vollen
Zügen genoss, dass er oft Angst hatte, in seinem eigenen Enthusiasmus zu
ertrinken, was das permanente Sargtragen und Grabreden halten müssen aus ihm
machte, kann man mit einem Wort umschreiben: erwachsen.
Wenn
die Eltern und viele der früheren Bezugspersonen verschwunden sind, wird es
nicht nur einsamer, sondern man realisiert ein erstes Mal, dass man auf sich
allein gestellt ist. Dass alle Handlungen Konsequenzen haben und dass niemand mehr da ist, der einem Schutz oder ein buchstäbliches Dach über dem Kopf bereitstellt, wenn etwas im Leben schiefgehen sollte. Das Leben wird zur Pflicht, das schwerelos verträumte in den Tag hinein leben war ebenso gestorben wie die Eltern.
Alles
kein Problem, man hat ja noch Freunde, sagt man sich. Aber die Erfahrung in Krisenzeiten ist
auch jene, dass die normalen Gleichaltrigen die, so Gott will, noch kaum Erfahrung
mit dem Tod machen mussten, gegenüber Trauernden und am Leben hadernden zwar bemühtes Verständnis entgegenzubringen versuchen. Mit dieser
übertriebenen, lebensverändernden Auseinandersetzung mit Tod, Krankheit und
Sterben, wie sie mir und meiner Familie widerfahren ist, können allerdings nur wenige
umgehen. Was soll man auch jemanden entgegnen, wenn er auf die Frage, wie geht es
Dir, antwortet: "Meine Eltern sind tot, meine Frau hat ein Kind verloren
und mein Schwager hat einen Hirntumor. Danke der Nachfrage"?
Man
erwischt sich, dass man sich am Wochenende auf einer Feier nur noch mit
Menschen unterhält, die ebenfalls Angehörige, im Idealfall beide Elternteile, verloren haben und man sich so ausgelassen darüber freut, so jemanden kennengelernt
zu haben, dass man selbst merkt, wie krank und absurd das eigene Leben geworden
ist.
An
Allerheiligen sind wir wieder an den Gräbern gestanden und ich habe mich nach
der Zeit gesehnt, als ich am Grab der Großväter stand, die ich nie
kennengelernt hatte. Heute sind es zu viele Gräber an die man sich stellen
müsste und man muss auch noch dankbar sein, dass zumindest der Rest der Familie noch
mit dabei steht bzw. im Rollstuhl sitzt.
Man
weiß, so ist das Leben und jeder hat sein Päckchen Elend zu tragen. Aber man
weiß auch, dass es nicht viele der Freunde von früher gibt, die auch nur im
Ansatz nachempfinden können oder versuchen, was der Tod mit den Lebenden macht.
Und das fühlt sich fast noch trauriger an als die Einsamkeit, die die
Verstorbenen hinterlassen haben.
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