Ferdinand von Schirach liest beim "Leseglück" in Stein an der Traun
Ferdinand von Schirach ist der vielleicht hochkarätigste Autor,
den das Gymnasium Stein bisher für die Steiner Literaturtage gewinnen konnte.
Einer der meistgelesenen international veröffentlichten deutschen Autoren, der
zugleich für Intellektualität und literarische Qualität steht. Klar, ganz Stein
stand Kopf, die Veranstaltung war restlos ausverkauft und kleine Autoren wie
ich wären außen vor geblieben. Auch, weil ich von Ferdinand von Schirach nur
zwei Dinge wusste. Dass er der Cousin meines Lieblingsschriftstellers ist. Und
er die Klappentextempfehlung von "Panikherz" geschrieben hatte. Mehr
hatte ich von ihm nicht gelesen.
So scharf wie die Rhetorik auf der Bühne sind die Fotos vom Huawei P30 nicht. |
Umso mehr hatte ich von Ralf Enzensberger gelesen, der als
Moderator nach Stein geladen wurde. Und er überredet mich schließlich, nicht
nur als aktiver Teil der hiesigen Literaturszene zu agieren, sondern endlich
einmal auch als passiver.
Vielbeschäftigt wie ich bin, kam ich zum Literaturevent des
Jahres eine halbe Stunde zu spät und musste erst mit der Einlassdame
diskutieren, ob ich rein durfte. Für 25 Euro durfte ich. Von Schirach ließ sich
von meinem Stühleknarzen und Mantelrascheln nicht stören und referierte
inbrünstig über Europa, Menschenrechte und Werte. Als alle spontan applaudierten,
klatschte ich frenetisch mit, obwohl ich geistig der Argumentationslinie nicht
ansatzweise gewachsen war. Aber es war das Stichwort "Europa"
gefallen und ich wollte kein Mensch sein, der beim Stichwort Europa nicht begeistert
klatscht. Während ich immer überzeugter wurde, dass es sich um eine politische
Veranstaltung handelte, verwandelte sich der eindrucksvolle Sermon doch noch in
einen literarischen Text. Plötzlich klatschen wieder alle, das Licht ging an
und von Schirach verschwand von der Bühne. Ich will meine 25 Euro zurück,
skandierte ich und man beruhigte mich, es sei Pause.
In der Pause gab es, anders als auf den Plakaten angepriesen,
keine Zigaretten und Kaffee. Dafür Apfelschorle und Steiner Bier. Vom Who is
Who Der hiesigen Literaturszene waren alle Lektorinnen, Netzwerkerinnnen und
künftigen First Ladys da, die Rang und Namen hatten.
Die zweite Halbzeit bot den glücklich vom Buffet
zurückkehrenden kauenden Kulturliebhabern ein rhetorisches Rededuell mit einer
besonders geschärften Sprachklinge. Moderator Ralf Enzensberger bemerkte gleich
in der Aufwärmphase des geplanten lockeren Plausches, dass junge Menschen wie
er regelmäßig auf Youtube surften. Das geplante lockere Gespräch mit dem älteren
Herren war laut Ferdinand von Schirach ab da vorbei – sehr zur Freude des
Publikums. Denn das anschließende Wortgefecht zwischen Jung-Moderator und dem
vermeintlichen Alt-Literaten verlief auf höchstem Niveau und ich bedauerte
sehr, dass ich beim Beobachten mit offenem Mund kein Popcorn zur Hand hatte. Während
die einen begeistert auf die nächste Spitze des Großliteraten warteten, hofften
die anderen auf den einen Moment, an dem sie etwas wirklich Ergreifendes vom
Schriftsteller erfuhren. Es ging beinahe im gegenseitigen Frotzeln unter, dass
es Ralf Enzensberger gelang, diesen einen intimen Moment aus ihm heraus zu kitzeln.
Er sprach von Schirach mit Bezug auf Eleanor Rigby auf Einsamkeit an. Für einen
Moment fiel die Maske des launigen Rhetorik-Großmeisters und von Schirach erzählte
leise, fast mit sich selbst sprechend, über die einsamen Momente in den
Nächten. Er betonte, dass für ihn Einsamkeit etwas anderes sei, als Alleinsein
und in diesem Moment war es bis in die letzte Reihe zu mir zu spüren, dass Ferdinand
von Schirach dort oben zwar nicht allein, aber zutiefst einsam war.
Später erzählte er auf leise Weise, traurig reflektierend,
dass er als junger Mann das Gefühl hatte, die Zeit sei etwas Zähflüssiges. Nun,
mit fortschreitendem Alter werde sie immer schnellflüssiger und inzwischen weiß
er, dass die Zähflüssigkeit der Jugend etwas Gutes war.
Zuletzt kam noch das Publikum zu Wort. Die Zuhörer hatten
die einmalige Chance, einen der großen Geister unseres Kulturkreises eine
einzige Frage zu stellen. Und was fragten sie? Frau 1: „Sie haben zuerst
behauptet, dass Montesquieu die Perser-Briefe geschrieben hat. Dann, dass es
Voltaire war. Da ist ihnen doch ein Lapsus unterlaufen, oder?“ Die zweite
Frage, die das Leben des glücklichen Fragestellers für immer verändern sollte,
lautete: „Ich bringe einen Ernährungsratgeber heraus. Möchten sie das Vorwort
schreiben?“ Die berührende Antwort des Poeten: „Nein.“
Zum Schluss riet er den Schülerinnen und Schülern des Schloss-Internats
Stein noch, dass sie sich von niemanden raten lassen sollten, welchen Beruf sie
zu erlernen hätten. Sie sollten genau das erlernen, was sie gerne machen. Den
Zuhörern allgemein gab er den Hinweis, sie sollen sich die Welt, die Menschen einfach
anschauen, ohne sie zu beurteilen. Und, um noch ein letztes der vielen Bonmots
zu nennen, ein Satz der mich sehr berührt hatte: „Literatur ist nie eine Macht.
Sie kann nur Trost sein.“ Ich war untröstlich, dass ich nicht mehr genug Geld
hatte, um mir „Kaffee und Zigaretten“ zu kaufen. Dafür hatte ich einen Abend
erlebt, den ich so schnell nicht vergessen werde.
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Danke Bernhard, du hast den Abend so gut beschrieben, dass ich meinte, dabei gewesen zu sein. Seine Vorfahren waren allesamt hochgestellte Persönlichkeiten und seine Schwester und er, so habe ich den Eindruck, wollen dem Namen wieder die Ehre geben, den er einmal hatte. Ich bin beeindruckt von beiden Persönlichkeiten, die das Analysierende und Tröstende im Blickfeld haben.
AntwortenLöschenFerdinand von Schirach
Rechtsanwalt
Ferdinand von Schirach ist ein deutscher Strafverteidiger, Schriftsteller und Dramatiker. Schirach ist Sohn des Münchner Kaufmanns Robert von Schirach und Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach und dessen Ehefrau Henriette von Schirach. Einer seiner Urgroßväter war der Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann, ein anderer Urgroßvater der Intendant des Nationaltheaters in Weimar und des Staatstheaters Wiesbaden Carl von Schirach. Einer seiner Vorfahren über seine Urgroßmutter Emma Lynah Tillou Bailey Middleton von Schirach ist der Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung der USA, Arthur Middleton, einer der Gründerväter der USA. Ein anderer seiner Vorfahren ist der Historiker und Schriftsteller Gottlob Benedikt von Schirach, der 1781 die Zeitschrift Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und anderen Sachen gründete – eine der ersten Zeitschriften Europas.