Dienstag, 4. Februar 2020

Vom Anfang der Einsamkeit - Ferdinand von Schirach in Stein

Ferdinand von Schirach liest beim "Leseglück" in Stein an der Traun


Ferdinand von Schirach ist der vielleicht hochkarätigste Autor, den das Gymnasium Stein bisher für die Steiner Literaturtage gewinnen konnte. Einer der meistgelesenen international veröffentlichten deutschen Autoren, der zugleich für Intellektualität und literarische Qualität steht. Klar, ganz Stein stand Kopf, die Veranstaltung war restlos ausverkauft und kleine Autoren wie ich wären außen vor geblieben. Auch, weil ich von Ferdinand von Schirach nur zwei Dinge wusste. Dass er der Cousin meines Lieblingsschriftstellers ist. Und er die Klappentextempfehlung von "Panikherz" geschrieben hatte. Mehr hatte ich von ihm nicht gelesen. 
So scharf wie die Rhetorik auf der Bühne sind die Fotos vom Huawei P30 nicht.
Umso mehr hatte ich von Ralf Enzensberger gelesen, der als Moderator nach Stein geladen wurde. Und er überredet mich schließlich, nicht nur als aktiver Teil der hiesigen Literaturszene zu agieren, sondern endlich einmal auch als passiver.
Vielbeschäftigt wie ich bin, kam ich zum Literaturevent des Jahres eine halbe Stunde zu spät und musste erst mit der Einlassdame diskutieren, ob ich rein durfte. Für 25 Euro durfte ich. Von Schirach ließ sich von meinem Stühleknarzen und Mantelrascheln nicht stören und referierte inbrünstig über Europa, Menschenrechte und Werte. Als alle spontan applaudierten, klatschte ich frenetisch mit, obwohl ich geistig der Argumentationslinie nicht ansatzweise gewachsen war. Aber es war das Stichwort "Europa" gefallen und ich wollte kein Mensch sein, der beim Stichwort Europa nicht begeistert klatscht. Während ich immer überzeugter wurde, dass es sich um eine politische Veranstaltung handelte, verwandelte sich der eindrucksvolle Sermon doch noch in einen literarischen Text. Plötzlich klatschen wieder alle, das Licht ging an und von Schirach verschwand von der Bühne. Ich will meine 25 Euro zurück, skandierte ich und man beruhigte mich, es sei Pause. 
In der Pause gab es, anders als auf den Plakaten angepriesen, keine Zigaretten und Kaffee. Dafür Apfelschorle und Steiner Bier. Vom Who is Who Der hiesigen Literaturszene waren alle Lektorinnen, Netzwerkerinnnen und künftigen First Ladys da, die Rang und Namen hatten.
Die zweite Halbzeit bot den glücklich vom Buffet zurückkehrenden kauenden Kulturliebhabern ein rhetorisches Rededuell mit einer besonders geschärften Sprachklinge. Moderator Ralf Enzensberger bemerkte gleich in der Aufwärmphase des geplanten lockeren Plausches, dass junge Menschen wie er regelmäßig auf Youtube surften. Das geplante lockere Gespräch mit dem älteren Herren war laut Ferdinand von Schirach ab da vorbei – sehr zur Freude des Publikums. Denn das anschließende Wortgefecht zwischen Jung-Moderator und dem vermeintlichen Alt-Literaten verlief auf höchstem Niveau und ich bedauerte sehr, dass ich beim Beobachten mit offenem Mund kein Popcorn zur Hand hatte. Während die einen begeistert auf die nächste Spitze des Großliteraten warteten, hofften die anderen auf den einen Moment, an dem sie etwas wirklich Ergreifendes vom Schriftsteller erfuhren. Es ging beinahe im gegenseitigen Frotzeln unter, dass es Ralf Enzensberger gelang, diesen einen intimen Moment aus ihm heraus zu kitzeln. Er sprach von Schirach mit Bezug auf Eleanor Rigby auf Einsamkeit an. Für einen Moment fiel die Maske des launigen Rhetorik-Großmeisters und von Schirach erzählte leise, fast mit sich selbst sprechend, über die einsamen Momente in den Nächten. Er betonte, dass für ihn Einsamkeit etwas anderes sei, als Alleinsein und in diesem Moment war es bis in die letzte Reihe zu mir zu spüren, dass Ferdinand von Schirach dort oben zwar nicht allein, aber zutiefst einsam war.
Später erzählte er auf leise Weise, traurig reflektierend, dass er als junger Mann das Gefühl hatte, die Zeit sei etwas Zähflüssiges. Nun, mit fortschreitendem Alter werde sie immer schnellflüssiger und inzwischen weiß er, dass die Zähflüssigkeit der Jugend etwas Gutes war.
Zuletzt kam noch das Publikum zu Wort. Die Zuhörer hatten die einmalige Chance, einen der großen Geister unseres Kulturkreises eine einzige Frage zu stellen. Und was fragten sie? Frau 1: „Sie haben zuerst behauptet, dass Montesquieu die Perser-Briefe geschrieben hat. Dann, dass es Voltaire war. Da ist ihnen doch ein Lapsus unterlaufen, oder?“ Die zweite Frage, die das Leben des glücklichen Fragestellers für immer verändern sollte, lautete: „Ich bringe einen Ernährungsratgeber heraus. Möchten sie das Vorwort schreiben?“ Die berührende Antwort des Poeten: „Nein.“
Zum Schluss riet er den Schülerinnen und Schülern des Schloss-Internats Stein noch, dass sie sich von niemanden raten lassen sollten, welchen Beruf sie zu erlernen hätten. Sie sollten genau das erlernen, was sie gerne machen. Den Zuhörern allgemein gab er den Hinweis, sie sollen sich die Welt, die Menschen einfach anschauen, ohne sie zu beurteilen. Und, um noch ein letztes der vielen Bonmots zu nennen, ein Satz der mich sehr berührt hatte: „Literatur ist nie eine Macht. Sie kann nur Trost sein.“ Ich war untröstlich, dass ich nicht mehr genug Geld hatte, um mir „Kaffee und Zigaretten“ zu kaufen. Dafür hatte ich einen Abend erlebt, den ich so schnell nicht vergessen werde.

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1 Kommentar:

  1. Danke Bernhard, du hast den Abend so gut beschrieben, dass ich meinte, dabei gewesen zu sein. Seine Vorfahren waren allesamt hochgestellte Persönlichkeiten und seine Schwester und er, so habe ich den Eindruck, wollen dem Namen wieder die Ehre geben, den er einmal hatte. Ich bin beeindruckt von beiden Persönlichkeiten, die das Analysierende und Tröstende im Blickfeld haben.

    Ferdinand von Schirach
    Rechtsanwalt
    Ferdinand von Schirach ist ein deutscher Strafverteidiger, Schriftsteller und Dramatiker. Schirach ist Sohn des Münchner Kaufmanns Robert von Schirach und Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach und dessen Ehefrau Henriette von Schirach. Einer seiner Urgroßväter war der Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann, ein anderer Urgroßvater der Intendant des Nationaltheaters in Weimar und des Staatstheaters Wiesbaden Carl von Schirach. Einer seiner Vorfahren über seine Urgroßmutter Emma Lynah Tillou Bailey Middleton von Schirach ist der Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung der USA, Arthur Middleton, einer der Gründerväter der USA. Ein anderer seiner Vorfahren ist der Historiker und Schriftsteller Gottlob Benedikt von Schirach, der 1781 die Zeitschrift Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und anderen Sachen gründete – eine der ersten Zeitschriften Europas.

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