Schreiben am Abgrund
Mancher
Künstler schuf seine größten Werke, wenn er an der Klippe eines tiefen Abgrundes stand. Wenn Kleinigkeiten darüber entschieden, ob ein großes Werk geschaffen oder der Künstler vernichtet wird. Vor einem Jahr begann in meinem Leben eine schwer auszuhaltender turbulenter
Monat. Es schien als habe die Zeit der Ernte begonnen. Mein großes Buch über das Sterben, an dem ich sechs Jahre gearbeitet hatte, stand kurz vor der
Veröffentlichung. Ich war als einer der Kulturschaffende auf eine
Podiumsdiskussion mit dem Bürgermeister eingeladen und stand mit Familie von
Rönne in Kontakt, um Ronjas erste Lesung zu Hause zu organisieren. Zugleich
wurde mein Debütroman gerade als Lektüre in einer Elften Klasse
durchgenommen. Meine Laufbahn als Autor hatte eine faszinierende Dynamik
angenommen und noch ahnte ich nicht, dass dieser Monat genügend Stoff für
weitere schicksalhafte Romane bieten würde.
Ronja von Rönnes Lesung zu Hause |
Mit der
Frage im Kopf, warum ich stets über den Tod schrieb, kehrte ich zurück. Kurz
darauf ein Anruf. Meine Schwester. Ihr Mann ist tot.
Er war
unheilbar krank. Dennoch taumelte ich, der ich eine Stunde zuvor noch ein
ambitionierter junger Schriftsteller war, verstört und verzweifelt ins
Krankenhaus.
Wenige Tage
nach der Beerdigung fuhr ich mit meiner Familie zur lang geplanten
Literaturwerkstatt nach Barliano in der Toskana. Die Familie war gezeichnet,
mein Schreiben verstummt. Nach einigen Tagen in dieser atemberaubend schönen
Landschaft erholten wir uns langsam von den schicksalhaften Tagen und Wochen.
Kaum begannen wir wieder zu lachen, der nächste lebensverändernde Anruf: mein
kleiner Neffe, auf dessen Geburt wir uns alle freuten, würde tot zur Welt kommen.
In Barliano kurz vor der nächsten Horrornachricht |
Wir befanden
uns mitten in einer Gemeinschaft, lebten auf engem Raum mit den anderen Autoren
und die nächsten Tage wurden zur extremen Stressituation für die Familie.
Anstatt
zwanglos zu schreiben, kippte der Aufenthalt in Krisenmanagement. Das Unaussprechliche konnte nicht in Worte gefasst werden. Wie hätten die
Mitbewohner auch nur im Ansatz verstehen können, was meiner Familie innerhalb
von zwei Wochen passiert war?
Erst Monate
später begann ich darüber zu schreiben. Und bald schrieb ich über nichts anderes mehr. Jeder einzelne Text beinhaltete entweder Barliano oder ein
Glioblastom oder ein totes Kind. Oder alles zusammen.
"Herr
Strasser, warum schreiben sie immer über den Tod?"
"Weil
der Tod mein Leben ist."
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