Mittwoch, 14. Juni 2017

Der Schriftsteller und der Abgrund

Schreiben am Abgrund


Mancher Künstler schuf seine größten Werke, wenn er an der Klippe eines tiefen Abgrundes stand. Wenn Kleinigkeiten darüber entschieden, ob ein großes Werk geschaffen oder der Künstler vernichtet wird. Vor einem Jahr begann in meinem Leben eine schwer auszuhaltender turbulenter Monat. Es schien als habe die Zeit der Ernte begonnen. Mein großes Buch über das Sterben, an dem ich sechs Jahre gearbeitet hatte, stand kurz vor der Veröffentlichung. Ich war als einer der Kulturschaffende auf eine Podiumsdiskussion mit dem Bürgermeister eingeladen und stand mit Familie von Rönne in Kontakt, um Ronjas erste Lesung zu Hause zu organisieren. Zugleich wurde mein Debütroman gerade als Lektüre in einer Elften Klasse durchgenommen. Meine Laufbahn als Autor hatte eine faszinierende Dynamik angenommen und noch ahnte ich nicht, dass dieser Monat genügend Stoff für weitere schicksalhafte Romane bieten würde. 
Ronja von Rönnes Lesung zu Hause
Am 4. Mai sprach ich vor der Schulklasse der Hotel und Tourismusschule Traunstein und beantwortete alle Fragen zu den "Kleinstadtrebellen" Gegen Ende fragte mich ein Schüler, warum ich immer über den Tod schreibe. Ich war irritiert, weil mein erstes Buch nicht primär vom Tod handelte. Aber der Schüler hatte recht. Auch Peters Liebe zu den Kleinstadtrebellen wurde durch einen Schicksalsschlag ausgelöst. 
Mit der Frage im Kopf, warum ich stets über den Tod schrieb, kehrte ich zurück. Kurz darauf ein Anruf. Meine Schwester. Ihr Mann ist tot. 
Er war unheilbar krank. Dennoch taumelte ich, der ich eine Stunde zuvor noch ein ambitionierter junger Schriftsteller war, verstört und verzweifelt ins Krankenhaus. 
Wenige Tage nach der Beerdigung fuhr ich mit meiner Familie zur lang geplanten Literaturwerkstatt nach Barliano in der Toskana. Die Familie war gezeichnet, mein Schreiben verstummt. Nach einigen Tagen in dieser atemberaubend schönen Landschaft erholten wir uns langsam von den schicksalhaften Tagen und Wochen. Kaum begannen wir wieder zu lachen, der nächste lebensverändernde Anruf: mein kleiner Neffe, auf dessen Geburt wir uns alle freuten, würde tot zur Welt kommen. 
In Barliano kurz vor der nächsten Horrornachricht
Innerhalb weniger Sekunden stürzte das ohnehin fragile Leben erneut in sich zusammen. Mein Buch, Ronjas Lesung, die geplanten Auftritte - alles nichtig. 
Wir befanden uns mitten in einer Gemeinschaft, lebten auf engem Raum mit den anderen Autoren und die nächsten Tage wurden zur extremen Stressituation für die Familie. 
Anstatt zwanglos zu schreiben, kippte der Aufenthalt in Krisenmanagement. Das Unaussprechliche konnte nicht in Worte gefasst werden. Wie hätten die Mitbewohner auch nur im Ansatz verstehen können, was meiner Familie innerhalb von zwei Wochen passiert war?
Erst Monate später begann ich darüber zu schreiben. Und bald schrieb ich über nichts anderes mehr. Jeder einzelne Text beinhaltete entweder Barliano oder ein Glioblastom oder ein totes Kind. Oder alles zusammen. 

"Herr Strasser, warum schreiben sie immer über den Tod?"

"Weil der Tod mein Leben ist."

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