Donnerstag, 10. März 2016

"Wir kommen" - Der Roman von Ronja von Rönne

"Wir kommen" heißt das Romandebüt von Ronja von Rönne. Es hätte auch "Vier kommen"
heißen können. Viererkonstellationen stehen im Mittelpunkt, ebenso das Nicht-kommen, das nicht Ankommen, das Suchen einer jungen Generation die alles hat, aber nichts, das bleibt. 
Karl Ove Knausgard hat einmal gesagt, dass Literatur Ausschau halten muss, Ausschau nach etwas anderem. Dies sei ihre einzige Aufgabe. 
Ronja von Rönne hält Ausschau. Die Gedanken ihrer Ich-Erzählerin, oft ironisch, der Nihilismus der beschriebenen Welt sind nicht neu, aber sie hebt etwas, das vielleicht mit Christian Krachts Faserland begonnen hat, in eine neue Dimension, in die nächste Generation. Ist das die Generation Y oder schon wieder etwas ganz Neues?
Doch Stop, nochmal alles auf Anfang. 
Worum geht es eigentlich?
Da ihr Therapeut in Urlaub geht, soll die junge Erzählerin ihre Gedanken in ein blau-gelbes Notizbuch, auf dem ein Streichholz abgebildet ist, aufschreiben. Zu notieren gibt es genug: Maja, die Jugendfreundin ist tot. Zumindest wird dies auf der Einladung zur Beerdigung behauptet. Und auch die Viererbeziehung mit ihrem Freund Jonas, ihrem Ex-Freund Karl und dessen Neuer Leonie ist weniger erotische Utopie denn zermürbende Realität. Denn selbst wenn es zu viert perfekt sei, wie die Erzählerin behauptet, wird die Konstellation durch Leonies stille Tochter Emma-Louise, also der Nummer  Fünf, gesprengt. Da jeder der Fünf seine eigenen unausgesprochenen Sprengsätze in sich trägt, beschließen sie, eine Weile in einem Ferienhaus am Meer zu leben, bis sich die Probleme von alleine lösen. Bis alles wieder gut ist. Bis Maja doch nicht tot ist. Bis aus aus Vierer- wieder Zweierbeziehungen werden. Bis klar ist, wer der Vater von Leonies Tochter ist. Und bis diese ganze erdrückende Welt eine andere ist.

Hat das alles was mit dem Chiemgau zu tun?


Kleinstadt Tristesse Kaufland
Ronja von Rönne lebt laut Klappentext in Berlin und Grassau. Sie nennt ihre Hauptfigur Nora und legt somit vielleicht bewusst, vielleicht unbewusst eine Fährte, dass es Ähnlichkeiten zwischen Ronja und Nora geben könnte. Es bleibt jedoch nur bei der Fährte, wobei das Spiel mit dem Ich und den daraus entstehenden Möglichkeiten gerade Thomas Glavinic im „Jonas Komplex“ mit Lust zelebriert. 
Fakt ist aber, dass in Noras Rückblenden an ihre Kindheit in einem konservativen Dorf Grassau und der Chiemgau Pate gestanden haben. "Sterben gehört  bei uns nämlich genau so zum Miteinander wie akkurat gestutzte Rasen..." Das klingt schon sehr nach Oberbayern. 
Ebenso wenn Nora in ihren Rückblicken vom Kaufland erzählt, von den Punks, die dort herumlungern und von den Hausfrauen, deren Wochenhöhepunkt der Einkauf und die Einkehr im Kaufland-Restaurant ist, sieht man sofort Traunstein vor sich. 
Es ist allerdings ein düsteres Bild, das sie von der scheinbaren Idylle auf dem Dorf zeichnet: Missbrauch, Alkoholismus, zerrüttete Familien. Nur ein Auerhaus fehlt. Es bleibt den Jugendlichen nur die Flucht nach Berlin.
In den Traunsteiner Buchhandlungen hat man übrigens beim Namen "von Rönne" mit den Schultern gezuckt. Zwar hatte zumindest die Buchhandlung Stifel einen ganzen Stapel angeschafft, aber von der Autorin hatte man noch nie etwas gehört. Das dürfte sich ändern...

Ist das jetzt gut oder was?


Der literarische Platzhirsch am Chiemsee ist bisher Norbert Niemann, weshalb sich ein Vergleich anböte. Er ist allerdings so ziemlich das Gegenteil einer Ronja von Rönne. Männlich, doppelt so alt, den Bachmannpreis hat er damals gewonnen. Stellt man „Wir kommen“ neben Niemanns „Willkommen neue Träume“, in dem ebenfalls eine Prise Chiemgau herauszulesen ist, wird der krasse Generationenwechsel deutlich. Denn, bei allem Respekt zum literarischen Schwergewicht von der anderen Chiemseeseite, schreiben kann sie. Die Sprache ist dicht, der Plot flott. Die Welt die sie beschreibt, eine neue, andere, nicht weniger traurige. Das Buch tut weh und alle paar Seiten sind wunderschöne Sätze zu entdecken, die man sich sofort auf T-Shirts drucken oder im Internet posten möchte. "Schau, das ist die Welt. Schau, das ist die Nacht. Schau, das ist das Warten. Schau, das ist die Leere. Schau, das ist..." möchte sie einem gelockten Zukunftsforscher sagen. Eine der Stellen im Buch, die auf unaufgeregte Weise berühren. 
Kurz erinnert das Buch an das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun aus den Zwanziger Jahren, das heute als wichtiges feministisches Buch gilt. Aber Feminismus und Ronja von Rönne - da war doch mal was...
Eine Leseempfehlung wird natürlich mit euphorischem Feuerwerk gegeben. Gespannt abzuwarten ist allerdings, welche Langzeitwirkung das Buch entfalten wird. Ob es, wie einst Wolfgang Herrndorfs „Tschick“, mit jedem Jahr wundervoller wird, oder ob es das Schicksal der legendären Popliteratur ereilt, die mit den Jahren eine goldene Patina anzunehmen begann.


Schreiben Sie weiter, Fräulein von Rönne. Und gibt’s mal eine Lesung in der Bücherei Grassau, werden wir kommen!

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