Samstag, 2. August 2014

Mein eigenes kleines Walden am Balkon

Ein kleines Walden am Balkon

Henry David Thoreau hatte die Antworten

In welcher Art von System ich lebe, müsste ich eigentlich jeden Monatsanfang begreifen, wenn ich schwarz auf weiß, oder besser, rot, sehe, wie viel von meinem ansehnlichen Bruttogehalt übrig bleibt. Und ich meine nicht primär die Lohnsteuer. Da sind noch die Sozialversicherungsabgaben und Versicherungen (sinnvoll), die Wohnkosten (notwendig), die Kinderbetreuungskosten (ohne geht's nicht, oder?) und zu schlechter Letzt die Tilgungssumme der laufenden Kredite. 
Und das ist jetzt nur der jeweils Monatserste. Handy, Internet&Co. folgen erst. 
Was das über das System aussagt? Wir müssen ständig Geld verdienen, um die Schulden zu bedienen, die wir gemacht haben, um unser schönes Wohnen zu finanzieren und die Kosten, damit wir die Kinder in die Krippe schicken können, weil wir ja arbeiten müssen, um eben diese Kosten zu bedienen. Das ewige Hase und Igel - Spiel. 
Unser System freut sich, denn es will, dass wir unser gesamtes Geld investieren und dazu, am allerbesten für das System, auch die Einkünfte unserer Zukunft ausgeben, sprich, Schulden machen. 
Wie man diesem System entkommt, das haben sich schon andere, Klügere, vor mir gefragt. Man muss sie nur suchen. 
Ich hatte all die Antworten bereits mit achtzehn Jahren vor mir. Damals als ich in der Schule Henry David Thoreaus Walden. Ausgerechnet in den USA, dem Land des Turbokapitalismus. 
Thoreau ging in die Wälder, lebte in einer kleinen Holzhütte, baute Obst und Gemüse an und lebte von dem was er erntete und eintauschte. 
Fasziniert davon versuchte ich, zurück in Deutschland, ebenfalls so zu leben, in der Holzhütte hinterm Elternhaus. 
Allerdings schleppte ich einen Videorecorder hinein, hatte Kabelfernsehen und ging zum Essen und schlafen heim zur Mama. Nach den Sommerferien war sowieso wieder Schluss. Experiment polternd gescheitert. 
Fünfzehn Jahre später lese ich wieder im Walden. Kein sorgloser Schüler mehr, sondern jemand, dem die Raiffeisenbank gerade ein Eigenheim finanzier hat.
Inzwischen glaube ich, viele der Intentionen des nonkonformistischen Philosophen zu verstehen. Mit Begeisterung schleppe ich auf einmal Gartenerde auf den Balkon, topfe Romasalat um und beobachte meine winzigen Tomaten dabei, wie sie größer werden.
Ist ein Balkongarten und Selbstversorgung ein Weg, aus dem System auszubrechen? Wer meine Tomätchen kennt, die seit drei Wochen nicht reif werden wollen, ahnt, dass da ein Laienphilosoph ohne grünen Daumen am Werk ist. Ich habe, bis auf den Romasalat, der wächst wie wild, sämtliche Lebensmittel, wie gehabt, im Supermarkt gekauft und habe somit, zieht man die Kosten für Töpfe und Blumenerde ab, keinen Cent Gewinn gespart. Im Gegenteil.
Aber, ich habe einige Stunden mit Begeisterung damit verbracht, etwas zu schaffen, das mein Leben besser macht. Der Balkon sieht mit den Tomaten richtig schön aus und ich hab viele Seiten voller Lebensweisheiten in einem tollen Buch gelesen. Ich bin weiterhin im System, weiß, dass ich daraus nie ausbrechen werden kann und dennoch fühlt es sich ganz und gar nicht wie ein Misserfolg an, sich vier Wochen lang wieder mit Henry David Thoreau beschäftigt zu haben…

Mehr vom Autor gibt's auf bernhardstrasser.de

2 Kommentare:

  1. Hallo Bernhard Straßer -

    ich war gestern zum ersten Mal beim Treffen im 16. Hab mit einigen der ...besten Autoren gesprochen, und war, als blutjunger Anfänger von fast - nämlich im November werdender - Sechziger, sehr erfreut, dass es noch mehr solcher Spinner wie mich gibt (ich überlege schon ob ich nicht 61 sage, dann kann ich mich wenigstens in Gedanken ein Jahr jünger fühlen, und meine Jugend zumindest in Gedanken auskosten; ne, Moment, da fehlt irgendwas... was wollt ich ? Egal !).

    Jedenfalls: Als die beste Ehefrau von allen... ach nein, das hat Kishon immer kolportiert.

    Also, das beste Mädchen, das jemals hinter mir auf der Sitzbank meines Moppeds gesessen ist sagte mir, nachdem wir gegen 22.00 gegangen waren, warum ich denn mit dem jungen Mann mit dem Bart nicht gesprochen hätte - irgendwie und irgendso erschien es ihr als wäre es gut gewesen das zu tun.

    Jetzt lese ich heute mal genauer nach - und stelle fest, der da mit dem Bart ist ja noch einer: Noch so'n Gedankenhüpfer mit schrägen Gedankensprüngen!
    Na, das ist ja fein; pipifein, wie mein voraussichtlicher Schwiegersohn aus Salzburg sagen würd.

    Wie auch immer - Ich komme wieder!
    Bis spätestens Ende Oktober, mit

    Gruß aus Trucht'ling,

    Michael Jeuter
    (60, demnächst, hab ich das schon erwähnt ? Ich vergess immer so schnell, muss wohl am Alter liegen)

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  2. Lieber Michael Jeuter,
    der Mann mit dem Bart hatte gerade seinen 39. Geburtstag zu verdauen und sich in seinem Jugendwahn vor die 17-jährige Nachwuchsautorin gesetzt und sich bemüht, in aller Bescheidenheit den Ausführungen der 60-90-jährigen Autorenkollegen schweigend zu folgen und sich seine eigenen Gedanken zu machen.
    Wie sind Sie denn ausgerechnet auf diesen uralten Artikel gestoßen?
    Dann bis zum nächsten Mal. Die Chiemgau-Autoren sind das bunte Überraschungsei der bayerischen Literaturszene!

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