Von 1780 bis zur Schönramer Hell
Bier, Schönramer Hell, Bayern. So wurde ich sozialisiert. Selbst in den fernen USA hat sich dieses Gefühl zunächst verstärkt. Aber nur zunächst. Eine Erinnerung an meine persönliche Bier - Geschichte:Bier, ein bayerisches Grundnahrungsmittel
Mit sechzehn hatte man in unserem schönen Bayern nicht
nur die gesellschaftlich verwurzelte Pflicht, auf Gau- Trachten- Feuerwehr-
Pfarr- und Dorffesten, oft in großen, sogar nach dem Kulturgut benannten Zelten
dieses Gut zu konsumieren; es war auch nach bundesdeutscher, oft konträr zur
Lex Bavariae ausgelegten Rechtsprechung völlig legal.
Mit 18 wäre es mir sogar erlaubt gewesen, zum Beispiel am
Pettinger Waldfest zum Schönramer Hell ein Jacky Cola, oder ein Rüscherl als
Beifahrer dazu zu bestellen, welche zwar keine einheimischen Kulturgüter waren,
aber von den heimischen landeprägten Kulturwächtern als Allgemeingut in die
Festerlkultur übernommen wurden.
Allerdings war ich mit 18 nicht im schönen Bayern,
sondern fand mich in den fernen, fremden Vereinigten Staaten von Amerika
wieder.
Bier in Amerika
Die dortige Musikkultur hatte mich in Richtung Seattle
gezogen und ich war im benachbarten Spokane gelandet, ein amerikanischer
Katzensprung von 500 Kilometer, ein Nachbarort sozusagen, wie es daheim
Schönram war.
Das Gefühl eines oberbayerischen Burschen vom Land, der
ein erstes Mal am Flughafen in Seattle in eine amerikanische Toilette bieselt,
in die vielleicht schon Kurt Cobain gebieselt hat, war sogar noch prägender als
jenes erste 1780er mit Sechzehn.
Sehr bald stellte sich aber jener vielzitierte
Kulturschock ein, als dieser junge Bayer begriff, statt ins Land der
unbegrenzten Rock 'n' Roll Möglichkeiten ins Land der ungezählten Verbote
eingereist zu sein.
Zwar wurde ein Oktoberfest auch in Seattle gefeiert, nur
durfte ich dort nicht rein, da Alkohol erst ab 21 bestellt werden darf. Das
waren noch volle drei Jahre. Eine verdammt lange Zeit für jemanden von dem die
heimische Gesellschaft bereits seit zwei Jahren erwartete, auf Kulturfesten
seine Halbe, lass es mal wenigstens einen Radler sein, mit den anderen in die
Höhe zu stemmen.
Nach zwei Jahren bayerischer Sozialisation stand ich,
neben diversen Sprach- und Integrationsschwierigkeiten vor der großen Frage:
Was macht man eigentlich am Wochenende, wenn man nichts trinken darf? Eine
Frage, über die der typische Bayer, wenn er nicht direkt vor der MPU steht,
oder bierfastet, in der Regel eher selten nachdenkt.
Meine ersten amerikanischen Freunde fand ich, als ich zu
meiner Erleichterung feststellte, dass sich ein US Teenager dieselbe Frage
stellte. Bier: Ein völkerverständigendes Kulturelement. Spätestens auf der
Münchner Wiesn wird das jedem klar.
Mein Kulturschock bestand also nicht darin, mich am
Wochenende anders zu verhalten, als zu Hause, sondern darin, dass ein immenser
Aufwand dazu zu betreiben war und, wenn man erwischt wurde, man von der Polizei
mitgenommen wurde.
Ich lernte, dass amerikanische Nächte in der
amerikanischen Kleinstadt, einer die etwa zehn Mal so groß war wie eine
bayerische, Rosenheim zum Beispiel, gleichzeitig aber genau so viel bzw. wenig
Kultur anbot, dass diese amerikanischen Wochenend-Nächte immer vor einem
Supermarkt beginnen.
Vertrauenswürdigen Erwachsene wurden je nach Situation hanebüchene
Stories aufgetischt: Jemand hatte seinen
Ausweis vergessen, ein anderer Geburtstag, oder dieser arme bayerische
Austauschschüler hätte seit Monaten kein Bier bekommen. Und jeder Amerikaner
weiß natürlich, dass in Deutschland das Bier aus der Wasserleitung kommt und
neben Wiener Würstchen und Brezen zu den Grundnahrungsmitteln dieser unserer
exotischen Kultur gehört. Und wer will einen armen Deutschen, der seinen
Ausweis vergessen hat, an seinem Geburtstag verdursten lassen?
Es dauerte selten lange, bis sich jemand erbarmte und
zwei, drei Sixpacks für die jungen Leute besorgte. Soweit, so gut. Ab hier
begann der Kulturschock. Der Bayer, selbst der junge Heissporn, trinkt sein
Bier aus Gemütlichkeitsgründen. Er trinkt es in entspannter, geselliger Atmosphäre.
Und er trinkt es langsam. Und wenn überhaupt, trinkt er es nur dann schneller,
wenn es lack zu werden droht.
Der junge Amerikaner stand im ständigen Konflikt, bis
Zwölf, Halb Eins wieder zu Hause sein zu müssen, weil er ja offiziell im Kino
war. Und er musste dort trinken, wo ihn kein Erziehungsbefugter erwischte.
Ergo: Der Amerikaner muss schnell und heimlich trinken.
Also folgte der Junge Bayer seinen neuen amerikanischen
bei Wind und Wetter in den nächtlichen Park.
Die kulturell andersartig sozialisierten Higschool-Schüler
wollten diese kurzen Stunden als absoluten Höhepunkt der Woche erleben und
gleichzeitig buzzed, also rauschig sein und sich trotzdem, so nüchtern wie
möglich, zahnpastagrinsend, von den Eltern wieder in Empfang nehmen zu lassen.
Also tranken die Angehörigen dieses arg fremdländischen
Kulturkreises ihr Bier, das ohnehin nichts mit dem mühevoll gewonnenen
bayerischen Kulturgut gemein hatte, Dose für Dose (noch so eine Unart) in einem
Zug leer.
Die folgende Stunde wurde in einem teils ehrlichen, teils
eingebildeten Rausch so viel gekichert und wüst herumgealbert, dass die
Burschen aus jedem anständigen bayerischen Bierzelt sofort hinauskomplimentiert
worden wären.
Richtig abenteuerlich wurde es schließlich, wenn die
Parkwächter auf die Jugendlichen Biertrinker aufmerksam wurden. Und wir waren
natürlich nicht die einzigen in der Stadt, die derartige Rituale
pflegten.
Suchscheinwerfer schweiften über die Büsche. Wie bei der
Bundeswehr, die ich wenig später verweigern sollte, robbten wir durch das
Gehölz, schlugen wir uns durch die Büsche und überlegten uns Ausreden, wie wir
daheim die zerschundenen Arme und verdreckten Hosen erklären sollten.
Wie aufgeschreckte Antilopenherden preschten die Gruppen
vor dem Parkwächter durch das Dickicht und starrten erschrocken in das gleißend
helle Licht des Suchscheinwerfers.
Ein spektakuläres Räuber und Gendarmspiel, dachte ich
lange, bis sie einen aus meiner Historyklasse erwischten: Verhaftung, Verhör,
der peinliche Anruf bei den Eltern und der Spott der ganzen Schule. Ich dachte
an daheim und an den Spott, den der einzige in der Klasse bekam, der am Schulausflug
kein Bier trinken wollte. Andere Länder, andere Sitten.
Smells like beer spirit
Ein halbes Jahr später, immer noch Amerika, endlich
Sommer, neue Freunde.
Eine Clique der sogenannten "Coolen" der
Schule. Die Sportler, eine Cheerleaderin, alle so ganz anders als Kurt Cobain
sie gehässig besungen hatte.
Eine pfundige Bass, wie man sie daheim genannt hätte. Das
seltsame: Kein Alkohol. Niemand rauchte. Ich wurde zu einem Mixer eingeladen,
einer Tanzparty, auf der nichts getrunken wurde. Das gab‘s daheim nicht mal auf
der Kinderdiscparty.
Die Woche darauf waren auch sie im Park. Dreißig Kids der
Highschool spielten "Capture the flag", das amerikanische Räuber und
Gendarme. Wieder Robben durch die Parkanlagen, diesmal aber vor Freude lachend,
nicht vor Angst, erwischt zu werden, in einem hysterischen Anfall.
Die nächste Woche standen wir vor einem Supermarkt.
Nicht, um Bier kaufen zu lassen; sondern Eisblöcke. Wozu denn Eisblöcke?
Mitten im Juni rodelte eine Schar amerikanischer Schüler
und ein jauchzender oberbayerischer Austauschschüler auf Eisblöcken den South
Hill hinunter.
Woche für Woche dachten sich diese Jungs und Mädels die
kreativsten Spiele aus, selten so viel gelacht, selten so glücklich gewesen,
seit Jahren Samstagnacht nicht mehr so nüchtern heimgekommen.
Als ich heulend im Flieger nach Hause sitze, hat Bier
seinen Status als Kulturgut völlig verloren. Ich bin kein Bayer mehr.
Tage später, als ich ein erstes Mal wieder in einem
heimischen Festzelt sitze, ist mir das lallende Lederhosenvolk fremd geworden. Das
1780er schmeckt mir nicht. Hat es jemals geschmeckt? Ich will beim Edeka
Eisblöcke kaufen, aber der Verkäufer schaut mich an, als sei ich vom anderen
Stern. Als ich die Fußballer motivieren will, im Wald Capture the Flag zu
spielen, halten sie meine blumigen Erläuterungen, wie viel Spaß das gemacht hat
und dass die halbe Football Mannschaft mitgespielt hat, für einen Scherz. Sie
spielen lieber Schafkopfen im Bierkeller. Für den zutiefst amerikanisierten Oberbayern wurde das Schönramer Hell ganz plötzlich zur schönramer hell. Ich wusste auf einmal, es würde lange
dauern, bis ich mich von diesem Kulturschock erholt hatte.
Weitere Artikel auf meiner Webseite bernhardstrasser.de
Noch ein bieriger Beitrag: https://www.chiemgauseiten.de/2022/03/07/wei%C3%9Fblaue-bierseligkeit/
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