Von einem Jungen der in einer Bücherei groß wurde und Schriftsteller werden wollte
Das alte Pfarrgebäude, in dem sich die Bücherei Kirchanschöring die meiste Zeit ihres Bestehens befand, gibt es längst nicht mehr. Ein alter, stets modrig muffelnder Bau, im Keller finster und im ersten Stock wackelte der Boden, wenn man darauf lief. Und es wurde viel gelaufen, denn oben befand sich der Kindergarten. Im Erdgeschoss waren der ausladende Pfarrsaal und einer der magischsten Orte, die sich ein Kind nur wünschen kann: Die Bücherei!
Mitte der Achtziger Jahre wurde dieser Ort zu meinem zweiten Kinderzimmer. Meine Mama bekam das Amt der Büchereileiterin und da sie meistens keine Kinderbetreuerin hatte - das war sie ja selbst - verbrachten wir Kinder jeden Dienstagnachmittag und Sonntagvormittag in der "Katholischen Pfarrbücherei Kirchanschöring", wie sie damals hieß. Telefonnummer 1474. Eine der Zahlen die sich tief eingebrannt haben.
Während meine Mama entweder am Tisch neben dem Eingang zur Ausleihe saß, oder im provisorischen Bücherei-Büro rechts hinten auf ihrer topmodernen elektronischen Schreibmaschine tippte, saß ich im immerselben Sessel und schmökerte.
Vor den Bücherregalen, die die Wände entlang aufgestellt waren, standen zwei Kästen mit Kinderbüchern: Bilderbücher und Comics. Es gab wohl kein einziges Buch aus diesem Bereich, das ich nicht von Anfang bis zum Schluss durchgeblättert hatte. Bald aber gab ich mich mit den Kinderbüchern nicht mehr zufrieden und ich arbeitete das Bücherregal mit den Sachbüchern, das in den Raum hinein ragte. Lieblingsbuch dort: "Harry Valerien - WM Mexico '86"
Auffällig waren in den anderen Bücherregalen eine ellenlange Reihe roter Bücher mit dem Titel "Edgar Wallace". Auch auf der anderen Seite gab es einige Reihen mit identischen Buchrücken: Die Karl May - Bücher mit den Abenteuern von Winnetou und Old Shatterhand. Und die Reihe "Die drei ???", die ich zu verschlingen begann, sobald ich halbwegs sicher lesen konnte.
Doch bis dahin dauerte es noch eine Weile und ich begnügte mich mit den Asterix-Comics, den Was ist Was - Büchern und mit Hörspielcassetten. Die Bücherei verfügte nämlich auch über eine große Wand voller Cassetten. Am aufregendsten darunter waren Hörspiele wie "Die Nibelungen" mit Siegfried dem Drachentöter oder "Die Odyssee", bei der mich aber nur der Kampf mit dem Zyklopen interessierte.
Meine Mama machte sich ihrerseits gleich daran, die Bücherei zu modernisieren: Als erstes führte sie ein, dass man auch Spiele ausleihen konnte. Das war für uns superpraktisch. Wann immer wir ein neues Spiel entdeckten, baten wir unsere Mama, es für die Bücherei zu besorgen. Dann konnten wir es uns dort ausleihen und spielen, wann immer wir wollten.
An einer weitere Innovation war ich nicht ganz unbeteiligt: Mitte der Neunziger konnte ich meine Mama davon überzeugen, dass das Zeitalter der Cassetten sich dem Ende neigte und die Bücherei ab sofort CDs anschaffen müsste. Da meine Mama meinem Musikgeschmack vertraute, war die erste in der Pfarrbücherei auszuleihende CD ein Album von "Clawfinger". Eine Band, dessen Hip-Hop-Crossover-Metalklänge beim Pfarrer mindestens einen Herzkasperl verursacht haben dürften.
Meine Mama nahm mich auch öfter mit, wenn sie nach München zum Sankt-Michaelsbund zum Bücher-Shopping fuhr. Dort beluden wir einen riesigen Einkaufswagen mit sämtlichen Büchern die uns zusagten. Ich will nicht verneinen, dass meine Buch-Sucht damals ein wenig angefacht wurde und ich noch heute von ähnlichen Buchshopping-Exzessen träume.
Die Bücher mussten in mühevoller Kleinarbeit an unzähligen Abenden von den fleißigen Helfern in Folieneinband eingebunden werden. Auch ich half ab und zu mit, war aber schon damals mit zwei linken Händen gesegnet.
Die neuen Bücher wurden einmal im Jahr auf einer großen Buchausstellung präsentiert.
Ein weiteres Highlight im Bücherei-Jahr war für meine Mama der Büchereifasching. Für uns Kinder eher nicht. Meine Mama war nämlich eine überzeugte Pazifistin und fand, dass Pistolen und Gewehre auf einem Kinderfasching nichts zu suchen hatten. So war der Bücherei-Fasching der einzige Fasching weit und breit, auf dem nicht geschossen werden durfte. Die vielen Cowboys und Polizisten sahen, genau wie ich, in die Röhre. Ein wenig schämten wir uns für unsere Mama, dass sie so einen uncoolen Fasching veranstaltete, machten dann aber ihr zuliebe doch mit, wenn der Geierstanger auf seiner Ziach zum Ententanz aufspielte.
Es hatte aber auch Vorteile, das Kind der Büchereileiterin zu sein. So war ich bei der Rückgabe der Bücher eher schludrig und verlor bald den Überblick, wann ich welches Buch hätte zurückgeben sollen. Jedenfalls war meine Karteikarte nach einigen Jahren voll mit überfälligen Bücher und ich hatte ein mächtig schlechtes Gewissen. Wie meine Mama das mit den verschlampten Büchern noch geregelt hat, weiß ich bis heute nicht. Das eine oder andere befindet sich wohl auch nach vier Umzügen noch in meinem Bücherschrank. Lohnt es sich noch, dieses zurückzugeben?
Als Teenager fand ich die Bücherei von Jahr zu Jahr uncooler und meine Besuche dort nahmen stetig ab. Gleichzeitig wuchs die Liebe zu den Büchern. Doch weil ich inzwischen gelernt hatte, dass ich mit geliehenen Büchern nicht umgehen kann, begann ich, mir die Bücher selbst zu kaufen.
Vielleicht kann man es auch psychologisch erklären, dass ein Junge, der sein halbes Leben zwischen Büchern saß, die ihm nicht gehörten, irgendwann das Bedürfnis entwickelt, eine eigene Bücherei zu besitzen. So sieht man Haus nämlich inzwischen aus. Wenn ich so weiter mache, habe ich bald genau so viele Bücherregale wie die Bücherei Kirchanschöring Anno 84.
100 Jahre Bücherei Kirchanschöring! Ich freue mich sehr, dass auch ich ein Teil der Feierlichkeiten sein darf. Aus dem kleinen Bücherwurm von damals ist ein kleiner Schriftsteller geworden, der zur 100-Jahr-Feier einige Anekdoten aus seinem "Elterntagebuch" vortragen darf.
Würde mich freuen, wenn Ihr am 13. Oktober bei den Feierlichkeiten vorbeischaut!
Mehr über mich: www.chiemgauseiten.de
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