Montag, 24. September 2018

Auf dem Güßhübel

Der Güßhübel bei Kirchanschöring


Hinter Voglaich, am Stausee vorbei den Berg hoch, liegt Güßhübel. Es gibt hunderte Güßhübel im bayerisch-österreichischen Land. Heißt wohl etwas wie "Quelle auf einem Hügel" oder so. 

Mein Papa ist mit uns Kindern den Berg hinauf geradelt, am Schladei und Schmetzei vorbei zum Knaller. Dort wuchsen in der Wiese riesige Parasol-Schwammerl.
Ich selber konnte mich an diese Episode nicht mehr erinnern, aber meine Schwester hat sie an meinem 40. Geburtstag erzählt, als wir in der Scheune vom Knallerhof frühstückten.
Für Güßhübel hatte ich mich dreißig Jahre lang nicht interessiert. Gut, wir waren als Kinder bei der wilden Hilde auf dem Heuboden und eine anarchistische Wanderung bei strömenden Regen mit Martin endete in Güßhübel im Wald, wo wir Brotzeit machten. 
Später, als die Ahnenforschung begann, traf ich auf dem Weg zum Schladerer, wo mein Urgroßvater aufgewachsen war, zwei Amerikaner. Sie berichteten aufgeregt, dass es oben in Güßhübel eine Kapelle gäbe, die ich unbedingt anschauen müsste. 
Tatsächlich, hinter einem Bauernhof stand am höchsten Punkt des Hügels mitten auf dem Feld eine Kapelle. Sie war dem Heiligen Sebastian geweiht und eine Votivtafel erinnerte an eine spektakuläre Pest-Geschichte, als in ganz Watzing nur der Schwab die Pest überlebte und fortan Bauer aller vier Höfe war. Ich schrieb ergriffen einige Zeilen in das Gästebuch und wanderte weiter.
Jahre später stolperte ich im Internet über eine Bücherhütte in Kirchanschöring. Das Ehepaar Aicher, das bereits die Kapelle so liebevoll erbaut hatte, hatte neben der Kapelle eine Hütte voller Bücher eingerichtet. Der Wanderweg zwischen Kirchanschöring und Güßhübel, den die Gemeinde in Erinnerung an die einst in Voglaich lebende Schriftstellerin "Luise Rinser Wanderweg" nannte, führte ebenso an dieser Bücherhütte vorbei.
Jahre später war der Knallerhof ein beliebter Ort für große Festlichkeiten. Auch mein Cousin Hansi feierte dort seinen Geburtstag. 
Es war eine dunkle Zeit. Der Krebs war wieder in meine Familie zurückgekehrt. Diesmal hatte er ein erstes Mal die junge Generation erwischt. Ich erinnere mich, dass ich in düsterer Stimmung anreiste und selbst meine Todesfurcht inmitten dieses magischen Kraftortes gelindert wurde. Wir saßen bei Kerzenlicht unter einem Apfelbaum und aßen zu Abend. Ein kurzer Regen hinderte uns nicht daran, weiter zu speisen. Kurz darauf kehrten die Sterne wieder zurück. In der selben Nacht standen wir in der Sebastians-Kapelle und beteten und hofften. Zwanzig Monate später waren wir auf der Beerdigung, aber das Glas mit unseren
Wünschen steht noch heute in der Kapelle.
Dass ich selbst meinen 40. Geburtstag einst hier feiern würde, war dann doch eine der Überraschungen des Lebens. Erst hatte man mich als Schriftsteller für eine Lesung am Knallerhof gebucht. Und es war rückblickend tatsächlich die entspannteste und schönste Lesung die ich je gegeben habe. Im selben Monat fand also dort meine Geburtstagsfeier statt. Und wenn man an einem schönen Ort feiern darf, reicht es nicht, nur einen Abend dort Gast zu sein.
Es wurde ein Wochenende auf dem Güßhübel: Am Freitag sollte ich mit den Kindern aufbauen. Im Endeffekt lag ich auf der Holzliege neben der Bücherhütte in der Sonne und war seit Monaten nicht mehr so entspannt. Die Kinder plantschten oder verzehrten die saftigen Äpfel die hier überall herumliegen. Zwischendurch wurde mit Franz über Kultur und Schriftstellerei diskutiert und nichts deutete darauf hin, dass ich mich im kalten Traunstein seit Wochen wegen dieser Geburtstagsfeier an den Rand des Wahnsinns gestresst hatte.
Auch die Schönwetter-Garantie, die mir die Aichers gegeben hatten, hielt allen entgegengesetzten Wetterberichten stand: Als meine Feier begann blieb es sonnig und warm und fast dreißig Kinder tobten über das Gelände des Knallerhofes. 
Irgendwann, kurz bevor meine letzte Stunde als End-Dreißiger schlug, spazierte ich im Dunkeln über den Güßhübel und ließ die Stille und die Sterne und den Geruch, der so anders ist, als in der Stadt, auf mich wirken. Wie seltsam, dass man weg von zu Hause gehen muss, um zu begreifen, wo man "dahoam" ist. 
In derselben Nacht wurde ich statt vierzig noch einmal zwanzig. Zusammen mit meinen Studien-Freunden übernachteten wir in Zelten und Wohnmobilen und taten so, als ob wir nach dem Aufwachen keine Rückenschmerzen hatten. 
Am nächsten Morgen konnte man den wolkenverhangenen Bergen dabei zusehen, wie sie nach und nach aufklarten. Die auswärtigen Gäste fotografierten die Szenerie und fragten uns mehrmals ob wir wüssten, wie schön es bei uns ist.
Wissen wir es?
Als wir uns vom Knallerhof verabschiedeten, ratterten auf der Rückfahrt die Ideen, welche Geschichten man auf dem Güßhübel spielen lassen könnte. 
Dies ist die erste. Ich bin gespannt, ob weitere folgen werden...


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