Sonntag, 25. Juni 2017

Laufen, Lesen, Natur Erleben

Inspiration durch Training von Körper und Geist 


Keine Muße, Bücher zu lesen? Zu wenig Zeit, Sport zu betreiben? Sehnsucht, Schönes zu sehen und sich in der Natur inspirieren zu lassen? Mit einem simplen Trick, lassen sich Körper, Geist und Muße gleichzeitig anregen: 
Über den Fluss in die Wälder: Meine Laufstrecke
Nach der Geburt meines ersten Kindes versank ich im stetigen Dilemma, zu wenig Zeit für all die schönen Nebensächlichkeiten zu haben die mir wichtig waren: Lesen, Sport und Unternehmungen in der Natur. In dieser Zeit kam mir der simple Geistesblitz, dass man dies auf einfachste Weise kombinieren kann: Indem ich beim Laufen Hörbücher höre. 
So ging es mehrmals die Woche raus aus der Stadt: Ich lief - mal mit, mal ohne Kind durch die Auenlandschaften, den Fluss entlang und hatte stets meine Kopfhörer im Ohr. Zuvor hatte ich, wie wohl jeder andere Jogger auch, Musik gehört, deren Beat mich mal schneller, mal langsamer laufen ließen. Auf einmal waren es nicht Coldplay oder Muse die mich auf meiner Laufroute begleiteten, sondern Hans Castorp und Jay Gatsby.
Während all die anderen jungen Eltern erzählten, dass sie nie wieder ein Buch gelesen hatten, seit die Kinder auf der Welt waren, "las" ich den Zauberberg, Kerouacs On the Road, Unterwerfung, Wer die Nachtigall stört, Glavinic' "Das größere Wunder" und noch viele weitere (Hör)Bücher während ich gleichzeitig körperlich fit blieb. 
Diesen Weg ist auch Thomas Bernhard gern gejoggt.
Äh spaziert.
Natürlich sind wir hier im Chiemgau mit traumhaften Landschaften gesegnet, meine Laufwege führen mich stets an der Traun entlang, mal zum Triftweg, mal zum Klobenstein, vorbei an der Augenkapelle. Wege die so inspirierend sind, dass manche Örtlichkeit - ich schrieb damals an "Sterne sieht man nur bei Nacht" - und manches Kapitel dem ich damals lauschte - im Buch landeten. 
Dabei kam es zu seltsamen Begebenheiten wie während eines Laufs an dem ich Thomas Bernhard's "Ein Kind" lauschte: Genau in dem Moment, in dem ich das Traunsteiner Viadukt unterquerte, schwadronierte Thomas Bernhard, man müsse eben dieses in die Luft sprengen. Ebenfalls ein Genuss, gerade über den Kaufland-Parkplatz zu joggen, in die Gesichter der gehetzten Hausfrauen zu blicken und Ronja von Rönnes böse Beschreibung desselben Kauflandes in "Wir kommen" zu lauschen.
Mystischer Kraftort: Der Klobenstein
Nach Dutzenden Hörbüchern die mich durch das Traunsteiner Altwasser begleitet haben (Man denkt automatisch an einen Brudermord), oder tief in die Panzerstraße Richtung Waldfriedhof, wurde auch deutlich, dass die Qualität stark variiert. Unvergleichlich die Hörspielbearbeitung zum "Zauberberg", die in mir die Lust weckte, mich endlich an das Monsterwerk heranzuwagen (natürlich habe ich es bisher nie geschafft). Oder die bewegende Hörbuch-Fassung von Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur". Kongenial gelesen von August Diehl. Der ohnehin bewegende Text gewinnt durch August Diehl eine Tiefe und Traurigkeit, die einem den Atem stocken lässt - nicht nur, wenn man gerade die Stufen zur Wartberghöhe hinauf gelaufen ist. Weniger bewegt haben mich die Hörbuchfassungen von Huckleberry Finn oder Kafkas "Das Schloss". Was mit Sicherheit nicht am Inhalt lag.
Heute ist mein Jüngster schon so groß, dass er neben mir mit dem Rad fährt und ich brauche keine Hörbücher mehr, weil er selbst einem lebendigen Hörbuch gleichkommt. Wann immer es sich ergibt, zieht es mich dennoch raus in die Natur und trainiere Körper und Geist gleichzeitig. Derzeit lese ich beim Joggen übrigens die Buddenbrooks!

Mittwoch, 14. Juni 2017

Der Schriftsteller und der Abgrund

Schreiben am Abgrund


Mancher Künstler schuf seine größten Werke, wenn er an der Klippe eines tiefen Abgrundes stand. Wenn Kleinigkeiten darüber entschieden, ob ein großes Werk geschaffen oder der Künstler vernichtet wird. Vor einem Jahr begann in meinem Leben eine schwer auszuhaltender turbulenter Monat. Es schien als habe die Zeit der Ernte begonnen. Mein großes Buch über das Sterben, an dem ich sechs Jahre gearbeitet hatte, stand kurz vor der Veröffentlichung. Ich war als einer der Kulturschaffende auf eine Podiumsdiskussion mit dem Bürgermeister eingeladen und stand mit Familie von Rönne in Kontakt, um Ronjas erste Lesung zu Hause zu organisieren. Zugleich wurde mein Debütroman gerade als Lektüre in einer Elften Klasse durchgenommen. Meine Laufbahn als Autor hatte eine faszinierende Dynamik angenommen und noch ahnte ich nicht, dass dieser Monat genügend Stoff für weitere schicksalhafte Romane bieten würde. 
Ronja von Rönnes Lesung zu Hause
Am 4. Mai sprach ich vor der Schulklasse der Hotel und Tourismusschule Traunstein und beantwortete alle Fragen zu den "Kleinstadtrebellen" Gegen Ende fragte mich ein Schüler, warum ich immer über den Tod schreibe. Ich war irritiert, weil mein erstes Buch nicht primär vom Tod handelte. Aber der Schüler hatte recht. Auch Peters Liebe zu den Kleinstadtrebellen wurde durch einen Schicksalsschlag ausgelöst. 
Mit der Frage im Kopf, warum ich stets über den Tod schrieb, kehrte ich zurück. Kurz darauf ein Anruf. Meine Schwester. Ihr Mann ist tot. 
Er war unheilbar krank. Dennoch taumelte ich, der ich eine Stunde zuvor noch ein ambitionierter junger Schriftsteller war, verstört und verzweifelt ins Krankenhaus. 
Wenige Tage nach der Beerdigung fuhr ich mit meiner Familie zur lang geplanten Literaturwerkstatt nach Barliano in der Toskana. Die Familie war gezeichnet, mein Schreiben verstummt. Nach einigen Tagen in dieser atemberaubend schönen Landschaft erholten wir uns langsam von den schicksalhaften Tagen und Wochen. Kaum begannen wir wieder zu lachen, der nächste lebensverändernde Anruf: mein kleiner Neffe, auf dessen Geburt wir uns alle freuten, würde tot zur Welt kommen. 
In Barliano kurz vor der nächsten Horrornachricht
Innerhalb weniger Sekunden stürzte das ohnehin fragile Leben erneut in sich zusammen. Mein Buch, Ronjas Lesung, die geplanten Auftritte - alles nichtig. 
Wir befanden uns mitten in einer Gemeinschaft, lebten auf engem Raum mit den anderen Autoren und die nächsten Tage wurden zur extremen Stressituation für die Familie. 
Anstatt zwanglos zu schreiben, kippte der Aufenthalt in Krisenmanagement. Das Unaussprechliche konnte nicht in Worte gefasst werden. Wie hätten die Mitbewohner auch nur im Ansatz verstehen können, was meiner Familie innerhalb von zwei Wochen passiert war?
Erst Monate später begann ich darüber zu schreiben. Und bald schrieb ich über nichts anderes mehr. Jeder einzelne Text beinhaltete entweder Barliano oder ein Glioblastom oder ein totes Kind. Oder alles zusammen. 

"Herr Strasser, warum schreiben sie immer über den Tod?"

"Weil der Tod mein Leben ist."

Samstag, 3. Juni 2017

Was Haruki Murakamis Romane mit Astralreisen gemeinsam haben

Über das Entstehen magischer Literatur

Haruki Murakami und William Buhlman, amerikanischer Autor und Para-Wissenschaftler, haben auf dem ersten Blick rein gar nichts gemeinsam. Der eine schreibt Literatur auf Nobelpreisniveau, der andere ist bekannt für seine Bücher zum esoterischen Thema "Out of Body- Experience (OBE =Astralreisen). 
Dabei handelt es sich um das Verlassen der Seele oder des Bewusstseins des Körpers. Auch bekannt unter den Begriffen Astralreisen oder Schamanische Reise. Buhlman beschreibt in seinen Büchern Techniken, wie dieser - wissenschaftlich umstrittene - Zustand herbeigeführt wird. 
Zudem - und jetzt wird es interessant - schreibt Buhlman über die Erlebnisse, die er in den Zuständen des "den Körper Verlassens" erlebt. Und hier beginnt die Verbindung zu Haruki Murakamis Werk: Laut Buhlman ist die erste Schwelle den Körper zu verlassen, eine starke Schwingung, ein Schwingungszustand, der dazu führen kann, dass sich Körper und Geist voneinander lösen. Buhlman beschreibt, wie er zu Beginn einer Astralreise plötzlich durch das Gemäuer des Schlafzimmers schwebte. Zudem berichtet Buhlman von einem Paralleluniversum das er in seinen "Out of Body"-Erfahrungen erlebt: Dieselben Menschen der Realität - aber auf unbestimmte Art verändert. 
Erinnert man sich an Murakamis Großwerk 1Q84, gibt es zu Beginn eine Schlüsselszene in der Aomame an der Autobahn eine Eisentreppe hinabsteigt - und fortan in einem anderen 1984 landet. Murakami beschreibt ein Donnern, Vibrieren und Wind. Man muss nun wissen, dass man in einigen Meditationen die zu einer Astralreise führen, in Gedanken eine Treppe hinauf oder hinabsteigen muss. Weitere Merkmale einer beginnenden Astralreise sind neben der Schwingung (Vibration) laute Akkustikphänomene (Donnern) und das Empfinden eines Astralwindes. Kennern des Themas scheint es, dass Murakami hier verklausuliert den Beginn einer Astralreise als Erklärung für das Paralleluniversum aus 1Q84 beschreibt. 
Beim ersten Mal lesen hielt ich dies für eine amüsante Spekulation meinerseits und dachte noch, dass mir beim interpretieren die Gäule endgültig durchgegangen seien. 

Eine neue Interpretation für Murakamis Bücher?


Dann aber las ich Murakamis etwas älteres Buch Sputnik Sweetheart aus dem Jahr 1999.
Es befindet sich thematisch in einer Reihe mit 1Q84 und "Sputnik Sweetheart" könnte auch als Vorläuferbuch von 1Q84 bezeichnet werden. Auch darin beschäftigt sich Murakami mit dem Thema zweier paralleler Welten. Vielleicht ein Zufall, aber auch in diesem Roman gibt es Indizien und Parallelen zu den Astralreisen wie sie Buhlman beschrieben hat: Das Erwachen zum Höhepunkt der Nacht gegen vier Uhr ist die ideale Zeit, um eine Out of Body Experience auszulösen. Gefühle wie Körperlosigkeit ergänzen das Bild. Murakami beschreibt seine Figuren zweitweise so körperlos, als befänden sie sich gar nicht mehr bei sich, sondern schwebten auf - eben einer Astralreise.
Auch bei einer Szene aus "Mister Aufziehvogel" ist mir eine frappierende Ähnlichkeit zu Buhlmans Beschreibung des "durch Mauern Schwebens" aufgefallen: In einem Brunnen gefangen, hat der Protagonist während eines meditativ-dahinvegetierenden Zustandes mehrmals das Gefühl, sein Kopf dringe in das Ziegelwerk des Brunnens ein. 
Bestimmt lassen sich noch mehr Beispiele finden. Da das Phänomen des Astralreisens gesellschaftlich (noch) ein Tabuthema ist und niemand offen zugeben würde, wenn er diese Technik beherrscht, ist denkbar, dass Murakami zu den Menschen gehört, die zumindest Erfahrung darin besitzen. Oder er hat seinerseits Buhlman gelesen und sich von den faszinierenden Geschichten der "anderen Welt" inspirieren lassen. 
Wie dem auch sei - sie beweisen einmal mehr, wie facettenreich Murakamis Arbeit ist. Und wer nicht die Zeit hat, sich durch die über tausend Seiten von 1Q84 zu wälzen, dem sei das wesentlich schmalere aber nicht weniger eindrucksvolle "Sputnik Sweetheart" wärmstens empfohlen!