Montag, 2. November 2015

Was der Tod mit dem Leben so anstellt

Erst verschwinden die Toten, dann verschwinden die Lebenden, die vom Tod nichts wissen wollen


Ein unschöner Nebeneffekt des Tod ist im Leben noch junger Menschen, zu denen ich mich
Alle Jahre wieder: Allerheiligen
zähle, dass nicht nur die Menschen die gestorben sind verschwinden, sondern nach und nach auch die Freunde, die keine Erfahrung mit dem Thema Tod und Sterben haben, da sie nur schwer damit umgehen können. 
Bis zu meinem dreißigsten Geburtstag sind in kurzer Folge nach meiner Großmutter mehrere Onkel und Tanten und meine Mutter gestorben. Innerhalb von fünf Jahren folgten noch ein weiterer Onkel und mein Vater. 
Was das aus einem Berufsjugendlichen macht, der so euphorisch das Leben in vollen Zügen  genoss, dass er oft Angst hatte, in seinem eigenen Enthusiasmus zu ertrinken, was das permanente Sargtragen und Grabreden halten müssen aus ihm machte, kann man mit einem Wort umschreiben: erwachsen. 
Wenn die Eltern und viele der früheren Bezugspersonen verschwunden sind, wird es nicht nur einsamer, sondern man realisiert ein erstes Mal, dass man auf sich allein gestellt ist. Dass alle Handlungen Konsequenzen haben und dass niemand mehr da ist, der einem Schutz oder ein buchstäbliches Dach über dem Kopf bereitstellt, wenn etwas im Leben schiefgehen sollte. Das Leben wird zur Pflicht, das schwerelos verträumte in den Tag hinein leben war ebenso gestorben wie die Eltern.
Alles kein Problem, man hat ja noch Freunde, sagt man sich. Aber die Erfahrung in Krisenzeiten ist auch jene, dass die normalen Gleichaltrigen die, so Gott will, noch kaum Erfahrung mit dem Tod machen mussten, gegenüber Trauernden und am Leben hadernden zwar bemühtes Verständnis entgegenzubringen versuchen. Mit dieser übertriebenen, lebensverändernden Auseinandersetzung mit Tod, Krankheit und Sterben, wie sie mir und meiner Familie widerfahren ist, können allerdings nur wenige umgehen. Was soll man auch jemanden entgegnen, wenn er auf die Frage, wie geht es Dir, antwortet: "Meine Eltern sind tot, meine Frau hat ein Kind verloren und mein Schwager hat einen Hirntumor. Danke der Nachfrage"?
Man erwischt sich, dass man sich am Wochenende auf einer Feier nur noch mit Menschen unterhält, die ebenfalls Angehörige, im Idealfall beide Elternteile, verloren haben und man sich so ausgelassen darüber freut, so jemanden kennengelernt zu haben, dass man selbst merkt, wie krank und absurd das eigene Leben geworden ist. 
An Allerheiligen sind wir wieder an den Gräbern gestanden und ich habe mich nach der Zeit gesehnt, als ich am Grab der Großväter stand, die ich nie kennengelernt hatte. Heute sind es zu viele Gräber an die man sich stellen müsste und man muss auch noch dankbar sein, dass zumindest der Rest der Familie noch mit dabei steht bzw. im Rollstuhl sitzt. 

Man weiß, so ist das Leben und jeder hat sein Päckchen Elend zu tragen. Aber man weiß auch, dass es nicht viele der Freunde von früher gibt, die auch nur im Ansatz nachempfinden können oder versuchen, was der Tod mit den Lebenden macht. Und das fühlt sich fast noch trauriger an als die Einsamkeit, die die Verstorbenen hinterlassen haben. 

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