Freitag, 30. Oktober 2015

Dicke Bücher können fett machen!

Nachdem ich gestern verzweifelt den „Kampf um die Literatur“ ausgerufen habe, hat sich
Mal mehr, mal weniger nährreiche fette Bücher
heute dankenswerter Weise das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung unter Federführung von Lothar Müller des Themas angenommen. Eine Titelstory zum Thema Bücher. Sollte meine These vom Sterben der Literatur gottlob hochoffiziell widerlegt werden?
Vor Jahren traf ich eine damals blutjunge Nachwuchs-Schriftstellerin im Teenageralter. Ich fragte sie, was für eine Art von Buch sie denn geschrieben hätte. Sie sah mich stolz und selbstbewusst an und sagte: „Ein dickes.“
Und in eben dieses Horn bläst nun Lothar Müller, dessen Alter ich nach Schreiben dieses Textes gleich googeln werde. Er beschreibt den jüngsten Trend, dass die Leser sich auf möglichst dicke Wälzer stürzen. Als Referenz dazu führt er die immerhin schon über 15 Jahre alte Harry Potter- Reihe an. Natürlich wird die folgerichtige Frage gestellt, ob die Dicke eines Buches als Qualitätsmerkmal gelten kann. Eine klare Aussage traut sich der Artikel nicht zu. Dazu lasse ich mich selbst gerne herab: Schaut man sich die dicken Wälzer in den Auslagen der Buchhandlungen an, die fetten Thriller, die epischen Fantasyreihen, die dicken Erotikschmöker, fällt das Urteil ganz leicht: Dicke Bücher sind ein Abbild des momentanen Zustandes in der Literatur: Es gibt einige Ausnahmen, aber die meisten sind einfach zu lesen, fesselnd, zerstreuend und so trivial geschrieben, dass sie auch das kleinste Spatzenhirn in Windeseile mit Vergnügen durchlesen kann. Ein Buch wird leider nicht deshalb besser, weil es dick ist. Man kann halt aus einer Mettwurst kein Marzipan machen, wie es so schön heißt.
Und fette Bücher sind nicht immer gesund. Analog meines Plädoyers zu Slowfood-Literatur möchte ich auch hier dazu aufrufen, sich gut über Inhaltsstoffe und Nährwert fetter Bücher zu informieren.
Nachdem ich Herrn Dr. Müller nun gegoogelt habe, gleich mein Entschuldigungsschreiben: Da es sich offensichtlich um einen sehr gescheiten Herrn handelt, kann ich mir nur bildlich vorstellen, wie er mit den Augen gerollt hat, als der Chefredakteur ihm den Auftrag gab, er solle sich der Sache mit den „dicken Büchern“ annehmen… Mehr Esprit bitte beim nächsten Mal.

Mehr zum Thema Bücher:




Der Kampf um die Literatur

Kunst ist immer relativ, aber gute Literatur schwindet aus den Buchregalen
Der Kampf um das gute Buch wird der größte unserer Generation werden. Die kleinen Buchläden sterben aus, die verbleibenden ähneln sich in ihrem Buchsortiment wie ein Klon dem anderen. Es müsste längst einen Aufschrei der Bibliophilen geben. Aber stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. So verhält es sich beim Thema Buch, Literatur und Lesen in den Feuilletons unserer Zeit. Zwei Phänomene existieren nebeneinander, die sich gegenseitig zur Nichtigkeit auflösen: Einerseits liest die Jugend so viel wie noch nie. Andererseits verschwindet die Literatur im klassischen Sinne aus den Buchläden. Wie ist dieses Paradox zu erklären? Ganz einfach und plakativ ausgedrückt: Es wird nicht nur so viel gelesen, wie noch nie, es wird auch so viel Müll gelesen wie noch nie. Eine neue Generation in Handys blickender junger Menschen bevölkert unseren Planeten. Die meisten von ihnen, das sollte eigentlich Mut machen, lesen auf dem Handy Texte. Die Kehrseite daran: Jedem ist klar, dass die Handygucker nicht unbedingt Kafka oder Hölderlin lesen, sondern sich über den Whatsapp- und Facebook-Gossip auf dem Laufenden halten. Viele Nachrichten enthalten dann nicht einmal mehr Buchstaben, sondern es scheint möglich, ganze Kommunikationsstränge nur mit Emoticons am Laufen zu halten.
Aber zurück zum Lesen und zu den Büchern. Die Generation Handy liest auch Bücher. Der Leser ist weiterhin ein Marktfaktor, mit dem Geld umzusetzen ist. Aber - und das haben die Verlage natürlich erkannt - verkauft sich in erster Linie, was spannend ist, was träumen lässt, was leicht zu konsumieren ist. Mit schwer verdaulicher belletristischer Literatur ist nun mal kein Umsatz zu machen, das hat schon ein Jo Lendle erkannt. 
Aber was bedeutet es, wenn die "richtige" Literatur aus den Buchläden verschwindet, wenn das Gros der Leser sich nicht anstrengen möchte und ein Buch, das beim Lesen weh tut, wenn überhaupt, dann als Pflichtlektüre in der Schule angeblättert wird? Wächst hier nicht nur eine Generation Handyglotzer, sondern auch eine Generation "ich will nicht nachdenken müssen" heran? War es womöglich schon immer so, dass junge Leser einen Schmöker, an dem der Leser eben nicht wie ein Kleinkind an der Hand des Autors durch den Roman geführt wird, als unlesbar in die Ecke pfeffern? Konnte man früher den 08/15 Leser schon provozieren, indem die Kapitel so lang sind, dass es nicht möglich ist, noch schnell ein Kapitel fertig zu lesen und dann das Licht aus zu machen?
Und was sagt es über unser Feuilleton aus, wenn (die von mir selbst hoch geschätzten) Wolfgang Herrndorf, Thomas Glavinic und Karl Ove Knausgard, allesamt relativ leicht zu lesen, als Hochliteratur gelten? 

Die Fragen könnten beantwortet werden, wenn der Kampf der Leser um das gute Buch beginnt. Aber da es dem Leser Wurst ist, solange das Buch nicht anstrengend ist und weil man Bücher, die weh tun, leicht beiseite legen kann, wird es diesen Kampf nicht geben. 

Mehr zum Thema Literatur und Bücher:



Montag, 19. Oktober 2015

Wo sind die Blogger im Chiemgau?

Gibt es in Traunstein und Umgebung  noch andere gute Blogs?

Kitschig schöner Chiemgau = Bloggerwüste?
Liebe Chiemgau Blogger, wo seid Ihr? Diese Frage habe ich mir nach gut eineinhalb Jahren Bloggen und über zehntausend Klicks ein erstes Mal gestellt. Es kann doch nicht sein, dass ich der einzige Mensch in der landschaftlich so schönen Twitterwüste Chiemgauer Voralpenland bin!
Nach einiger Recherche muss ich ernüchtert feststellen: Zieht man die Bergsteiger- und Tourismusblogs und die drei Blogs (Drucktuns, Elterntagebuch, Autorenwort), an denen ich offensichtlich ebenfalls mitwirke ab, bleibt nicht viel übrig. Die Chiemgau-Blogger sind anscheinend alle nach München, Wien oder Berlin umgezogen. Ich halte tapfer die Stellung.
Klickt trotzdem mal rein bei:

Blog über die sehr innovative Regionalwährung "Chiemgauer" und über aktuelle politische Themen

"Regionales, Kritisches, Geschichtliches, Persönliches, Nachdenkliches, Skeptisches, Satirisches, Kurioses und Aktuelles über den Chiemgau, die Landkreise Rosenheim, Traunstein, dem  Berchtesgadener Land bis nach Salzburg."

Hier bloggt das Chiemgauer Unternehmen "Bayern hoch Sechs" über Aktuelles aus Wirtschaft und Kultur

Wars das schon?
Wenn Ihr einen interessanten Blog wisst, oder sogar betreibt, macht's mal Werbung und postet unten den Link!

Endlich gefunden: Die Chiemgaublogger!

Zwei Jahre später haben sie sich endlich gemeldet, die Blogger aus dem Chiemgau: Stefanie Dehler hat eine kleine aber feine Runde von Bloggern aus dem Chiemgau zusammengestellt: 
Die komplette Übersicht der Chiemgauer Blogger findet Ihr hier: http://zeitfueroptimisten.de/blogs-bloggerinnen-blogger-im-chiemgau/

Samstag, 17. Oktober 2015

Ich will gar nicht auf diese blöde Buchmesse!

Alois ist erleuchtet - Teil 4 der Literaturprovinzsatire

Die anderen sind alle auf dieser beschissenen Buchmesse. Die Ronja, die Cornelia. Der Norbert wahrscheinlich auch. Wär mir eigentlich egal. Wenn die nicht alle ständig twittern würden, wie geil es dort ist und wem sie schon alles die Hand geschüttelt haben. Alle bis auf den Norbert natürlich. Der ist ja alt und gescheit genug, der macht das nicht. Das twittern, meine ich. Nicht das Hände schütteln. Und die anderen prahlen dann auch noch herum, dass es im Literaturzirkus einen Dreck interessiert, wie gut man schreibt. Man muss nur die richtigen Leute kennen. Man muss nur dabei sein, bei der Buchmesse. Und man muss genau wissen, wen man vollschleimt und welcher Arsch kriechenswert ist. Und das Schlimme ist nicht, dass das so ist. Sondern, dass ich das weiß und so, so gern bei Euch mitmachen würde!
Ich mache das nämlich auch. Aber halt nicht in der Bücher-Bundesliga, sondern so eher provinziell im oberbayerischen. Anstatt Jo Lendle vollzuquatschen, dass er ein Visionär ist und, dass der Norbert und der Glavinic sich doch verpissen sollen aus seinem schönen Verlag, auch wenn da natürlich meine eigene Meinung dazu habe, sieht meine Realität ungefähr so aus: Ich sitze im Sitzungssaal des Landratsamtes und schleime mich bei den hiesigen Kultur-Verwaltern ein, wie toll ich es finde, dass junge Literaturtalente endlich beim Kulturpreis der Stadt berücksichtigt wurden, will aber eigentlich sagen, dass es eine Frechheit ist, dass ich den bescheuerten Preis nicht bekommen habe, sondern der Matthias. Wer ist denn nun der größte Jung-Literat im Chiemgau? Jaja, der Norbert selbst hat mir einmal gesagt, es wird Zeit, dass die jungen Wilden den verstaubten Kulturschaffenden in Traunstein mal in den Arsch treten. Sinngemäß jedenfalls. Aber genau die sind es halt, die die Preise verleihen und die einem so väterlich den Kopf tätscheln, wenn sie es gut finden, was man so macht. Von den Geldern mal ganz zu schweigen. Und deshalb finde ich auf einmal den Kunstverein Arts und die städtische Galerie dann doch supergut und bin voll begeistert von den wunderbaren Projekten dort und am aller, allerliebsten mag ich die Aquarellkunstwerke vom hiesigen Kunstverein. 
Ich registriert das natürlich, was die in Frankfurt für Tipps in die Provinz senden und hab dann einfach so getan, als sei ich auf der Buchmesse und jede Menge Hände geschüttelt, auch wenn mir natürlich klar ist, dass das unterm Strich eher nichts bringt für die Autorenkarriere. Und die Ronja hätte das wohl sicher auch wieder super gefunden, dass ich so selbstreflektiert erkenne, wie sehr man im Chiemgau in der Kacke hocken kann. Die hat wenigstens halb Deutschland und seit neuestem halb Österreich als Feind. Ich trau mich nicht einmal, mich mit den Aquarellmalern anzulegen. Und sowas nennt sich Kleinstadtrebell...Und das mit dem Kulturpreis kann ich wohl auch vergessen, wenn irgendwann einer der Traunsteiner Kulturtypen merkt, was Twitter ist...

Hier geht's zurück zum Teil 3: Die List der Wanderhure

Montag, 12. Oktober 2015

Die wunderbare Welt von Wanda


Der Wanda-Zirkus zieht weiter von Stadt zu Stadt
Seit fast einem Jahr zieht der Wanda-Zirkus durch Österreich und Deutschland und ist der derzeit unbestritten heißeste Scheiß, den der sonst so vorhersehbare Musikbusiness zu bieten hat. Mit dem zweiten Album „Bussi“ sind sie einerseits dabei, sich als Mega-Hype zu etablieren. Für die etablierten Fans andererseits ist „Bussi“ schon wieder so eine Art Hoam-coming in die Wanda-Welt. Es ist alles vertreten, was Amore zu einem life-changing Kunstwerk gemacht hat: Die falconesque Attitüde einer abgefuckten (Wiener) Welt, Bologna, Schnaps und Weinflaschen – alles mit drin, wofür man Wanda liebt. Nur der Thomas heißt jetzt irgendwie Andi und wir wissen immer noch nicht, mit wem Tante Ceccarelli in Bologna Amore gemacht hat. 
Dafür hört sich schon der titelgebende Song „Bussi Baby“ so an, als packte eine talentierte Wanda-Parodie-Band alle Klischees des ersten Albums in einen Song. Will heißen (in genau der Reihenfolge): High sein, Schnaps, Mama, Rom oder Berlin, Sterben in Wien und was Weißes. Und der Rest ist ein nicht mehr enden wollendes Bussi, Baby.
Wo Wanda drauf steht, ist auch jede Menge Schnaps drin. Darauf ist auch beim zweiten Album Verlass. Den Bierzelt-Kracher „1, 2, 3, 4“ hat man den Wienern ja schon auf den Live-Konzerten verziehen. Und wenn sie auf dem Oktoberfest nächstes Jahr tatsächlich Lieder über traurige europäische Geister grölen, muss man wohl erst recht der Band Respekt zollen. Erst ab dem zweiten Titel kriegt man eine Ahnung, was das Wanda-Universum sein könnte: Es schwingt immer etwas wienerisch Morbides mit. Der Tod zu einer Melange vermischt mit jeder Menge Alkoholika und einer Prise Inzest. So einfach ist das Geheimrezept. Das kann man jetzt bescheuert finden, oder einfach nur genial. 
Michael Marco Fitzthum alias Marco Michael Wanda und seine Jungs scheinen dieses Geheimrezept entschlüsselt haben, wie man die deutschsprachige Gitarrenschrammelmusik entstauben und völlig auf den Kopf stellen kann. 
Wie bei jedem Hype gibt es inzwischen bereits Kritiker, die die ersten Haare in der Suppe entdeckt haben, und diese vom Haupt des Frontsänger zu kommen vermuten: So wie einst der große Falco, so sind sie überzeugt, versucht sich auch Wanda im Inszenieren von Skandalen. Und so kann es kein Zufall sein, dass die hübsche junge Dame im Bussi-Video niemand anderes ist als Ronja von Rönne, das, glaubt man dem Internet, deutsche Gesicht des Antifeminismus. Ein Wink mit dem Zaunpfahl also, dass Wanda mit frauenfeindlichen Texten die Jugend verderben will. Die inzestuösen Andeutungen und die Schnapshymen aus dem ersten Album, sowie das Koks aus demselben Lied, das hätte man der Band ja noch verzeihen können. Aber diese Ronja von Rönne in einem Video mitspielen lassen – da zeigen die Wiener Machos endlich ihre hässliche Fratze.
Man kann auch zum Spaß haben in den Keller gehen. Wanda sind, was sie sind. Eine Rockband mit genialem melodiösem Retrosound, Texten, die mal mehr, mal weniger Interpretationsspielraum für Skandälchen lassen, eine braune Lederjacke und einfach unfassbar viel Amore. Weiter so. 

Mehr zu Wanda:



PS:
In der Süddeutschen erschien ein kongenial geschriebener Verriss von Wanda, in dem sich die Autorin aber irgendwie ebenfalls nicht diesem schwarzen Zauber entziehen konnte:

Wem dieser Typ aber einmal nach Feuer gefragt hat und mit Zigarette im Mundwinkel genuschelt hat: "Ich bin der Marco, übrigens", der ist dieser Band einfach verfallen. So isses einfach. 

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Warum Angela Merkel und Deutschland den Friedensnobelpreis verdient hätten

Die Stimmung kippt. Das Deutsche Sommermärchen ist vorbei. In den Medien lösen verstärkt Berichte von Missständen in Flüchtlingslagern und kriminellen Flüchtlingen jene von helfenden Bürgern und tatkräftigen Aktionskreisen ab.
Die Rechtskonservativen, die Pegida-Bewegungen, die besorgten Stammtischwutbürger haben wieder Oberwasser bekommen. Die Stimmung kippt.
Gerade jetzt wäre ein deutliches Zeichen von außen notwendig, um den deutschen Gutmenschen zu danken und dem Land den Spiegel vorzuhalten, was die letzten Wochen eigentlich geschehen ist. Der Friedensnobelpreis wäre ein politisches Signal dafür, dass dieses Land einen vielleicht irrationalen, aber einen richtigen Weg eingeschlagen hat. 
Wie kam es eigentlich dazu, dass ein reiches europäisches Land ohne Not die Grenzen für Flüchtlinge geflutet hat? Wie kommt es eigentlich dazu, dass dies als so außergewöhnlich gilt, dass man es als friedensnobelpreiswürdig statt als selbstverständlich betrachtet?
Die Jahre zuvor gab es ebenfalls Flüchtlingsströme. Nur wenige Flüchtlinge kamen bis Deutschland durch. Viele ertranken im Meer, wer es irgendwie an Frontec vorbei in die Festung Europa schaffte, wurde in erster Linie von Italien, Griechenland, den Mittelmeer-Anrainern aufgenommen. 
Schließlich die Bilder von überfüllten Zügen. Männer in Uniform, Familien mit Kindern, ausgezehrt und müde, auf Bahnsteigen wartend. Es sind Bilder, die jeder Deutsche fest verankert im Kopf hat. Allerdings in Schwarz-Weiß. Plötzlich sind die Bilder farbig. Und anstatt in eine Todesfabrik werden die Menschen nach München gebracht. Nach Dortmund. Nach Freilassing. Sie werden von Menschen empfangen, die ihnen Hilfe anbieten, die sich aufopferungsvoll kümmern, Nachtschicht für Nachtschicht. Wäre Auschwitz nicht ein Wort, das unter keinen Umständen in etwas Positives verwandelt werden kann, wäre man versucht zu schreiben, gerade geschieht ein umgekehrtes Auschwitz. Deutschland versucht, dem Schrecken seiner Vergangenheit etwas Gutes, etwas menschliches entgegenzusetzen. Deutschland versucht, das einzig moralisch richtige zu tun. Ohne Wenn und Aber. Horst Seehofer ist entsetzt.
Es wird psychologisiert, was nur in Angela Merkel gefahren ist. Warum es in Deutschland trotz Pegida-Bewegung und CSU so viel Hilfsbereitschaft gibt. Ob es die typische deutsche Selbstgeißelung ist, sich ein Flüchtlingsproblem ungeahnten Ausmaßes ins Land zu holen.

Es mag eine politisch irrationale Entscheidung sein, aber menschlich ist es schlicht und einfach die einzig richtige Entscheidung gewesen. Angela Merkel und tausende freiwillige Helfer haben sie getroffen. Und wenn das keinen Friedensnobelpreis wert ist, was sonst?

Montag, 5. Oktober 2015

Der Tod nach Venedig

Auf der Suche nach einem Fleck, der nicht schön ist
Letztens waren wir eine Woche in Kroation in Urlaub. Am besten hat es uns in Venedig 
gefallen. Venedig, die morbide Stadt am Lido, berühmt für den Tod in Venedig, für die schwarzen, Trauer tragenden Gondeln. Und auf der Rückfahrt sind wir dem Tod nach Venedig sogar noch recht nah gekommen. Jedenfalls hat es sich so angefühlt.
Doch zunächst habe ich Venedig vor dem Untergang gerettet. Mittags setzten wir uns zur Brotzeitpause an einen Brunnen. Da ich vorgewarnt war, dass in Venedig allein ein Espresso 18 EUR kostet, hatte ich mir einen ganzen Rucksack voller belegter Brote und Espressi aus der Thermoskanne vollgepackt. Da hab ich mir mindestens 1000 EUR gespart. Als wir ganz gemütlich Brotzeit machten, merkte ich, wie es im Abfalleimer neben mir zu qualmen begann. Irgendsoein Italiener oder Japaner oder so hatte seine Zigarette nicht vorschriftsmäßig ausgemacht und in den Papierkorb geworfen. 
Meine erste natürliche Reaktion war, unauffällig wegzugehen. Ich wars ja nicht, der Schuld ist, dass Venedig gleich abbrennt.
Im Gedenken an die Pest sind alle Gondeln schwarz
Dann hab ich aber das Gefühl gehabt, dass überall Überwachungskameras aufgestellt sind und hab mich durchgerungen, das knapp kalkulierte Trinkwasser in meinem Lunchpaketrucksack zu opfern. Im Wissen, dass in Venedig ein Mineralwasser sicher über 100 EUR kostet, schüttete ich das kostbare Nass heroisch über die Glut. 
Während ich mich noch selbst für meine Zivilcourage feierte, kam der Gastronom von gegenüber daher und goss weiteres Wasser aus einem Champagnerkübel über den Mistkübel. Vielleicht war es auch Champagner. Das war schwer zu erkennen. Jedenfalls zwinkerte er mir zu und sagte: „I saw, what you did“. Dann schüttelte er mir mit ernstem Blick die Hand und dankte mir auf italienisch für die Rettung der Stadt. Oder sowas in der Richtung, ich kann ja kein Italienisch. 
Das war also der Tag, an dem ich Venedig vor einer Brandkatastrophe bewahrt habe. Dabei, das ist mir erst später gekommen, ist ja nicht das Feuer der Feind der Stadt, sondern das Wasser. 


Der Markusplatz wurde nach Marco Polo, dem Erfinder
der Spaghetti benannt, dessen Gebeine von Kreuzrittern
in Alexandria geraubt wurden.
Nach der ganzen Aufregung haben wir einen Fleck gesucht, an dem Venedig nicht schön ist. Nach vier Stunden haben wir aufgegeben. Kann ruhig untergehen, die Stadt. So viel Schönheit hält ein normaler Mensch nicht aus.
Und dann sind fast wir untergegangen. Zurückgefahren sind wir mit der Prince of Venice. Einem Katamaran der, dies sei extra angeführt, der rührigen Schiffahrtsgesellschaft Kompass. Die haben mehrmals erwähnt, dass das Schiff in Australien gebaut wurde. Was allerdings nicht erklärt, ob das Schiff aus Altersgründen schon recht ramponiert war, oder wegen der weiten Überfahrt von der australischen Werft.
Jedenfalls hat bereits ein mittelmäßiger Seegang ausgereicht, dass das halbe Schiff seekrank wurde – sprich - kotzen musste. Um die kotzenden Passagiere zu beruhigen, hat der Kapitän, schließlich ein Live-Album eines kroatischen Schlagerstars á la Patrick Lindner abspielen lassen. Da musste dann ich beinahe kotzen. Irgendwann wichen die Kotzgeräusche Angstschreie, als der Prinz von Venedig immer heftiger gegen die Wellen krachte, hin und her geworfen wurde und an der Bar die ersten Gläser klirrten. Der Kapitän hat seinen Fahrgäste schließlich erklärt, dass er, um noch höheren Wellengang zu vermeiden, an der italienischen Küste entlangfahren wird. Was uns eine extra Stunde Zeit bescherte, um unseren Mageninhalt zu entleeren, das Best-Of Album des kraoatischen Schlagersängers zu genießen und Kindheitserinnerungen an Jesolo, Bibione und Caorle aufzufrischen.
Wir freuen uns schon auf unsere nächste Fahrt mit
einem Katamaran. Am liebsten direkt nach Australien.
Hoch anzurechnen ist dem Kapitän, dass er persönlich durch die Reihen ging, um Kotztüten auszuteilen und auch noch Scherze machte wie: „You need a sickness-bag?“ „Ja, bitte!“ „Macht zehn Euro. Hihihi!“ 
Als wir nach vier Stunden Todesangst endlich wieder in Kroatien ankamen, klang das Applaudieren der kreidebleichen Fahrgäste dafür, dass der Kapitän uns lebendig zurück gebracht hatte, ehrlich und aufrichtig. Ich habe nicht geklatscht, weil sich meine Finger so in die Kotztüte verkrallt hatten, dass ich die Handflächen nicht mehr zusammenbekam.
So war es rückblickend eigentlich gar nicht so schön in Venedig. Nächstes Jahr fahren wir nicht mehr nach Kroatien, sondern wieder nach Italien.